WTF-Talk: Klarstellung zur DIS
Über den WTF-Talk: Satanic Panic Update 2 haben wir bereits berichtet, im Folgenden gehe ich noch etwas konkreter auf das ein, was darin zur Dissoziativen Identitätsstörung erläutert wurde.
Nach jahrelanger Beschäftigung mit Studien und Fällen bringt es Frank Urbaniok auf den Punkt: „Ich bin überzeugt, die DIS im Sinne von strukturellen abgespaltenen Persönlichkeiten, die ein Eigenleben führen, das gibt es nicht.“ Was es jedoch gebe, sind jede Menge Phänomene von traumatisierten Menschen, Traumafolgestörungen bzw. unterschiedliche Symptome im dissoziativen Bereich. Bezugnehmend auf Dr. David Spiegels Interview im Video „Sybil. A brilliant hysteric?“ weist Lydia Benecke ergänzend darauf hin, dass es nicht um mehr als eine komplette Persönlichkeit gehe, sondern um eine Persönlichkeit, die in ihren Zuständen Schwierigkeiten damit habe, diese in ihrer Wahrnehmung im Gesamtbild zu verbinden.
Eigentlich ist es erschreckend, dass sich überaus kompetente Fachleute im Jahr 2024 gezwungen sehen, zu betonen, dass es nicht um abgespaltene Persönlichkeiten geht, sondern um eine mangelnde Verbindung von Zuständen innerhalb einer Persönlichkeit. Hier sind wir exakt bei dem Punkt, dass sich ein Kleinkind eben nicht „aufspalten“ kann, – wie oft behauptet wurde – sondern dass die DIS das Ergebnis mangelhafter integrativer und assoziativer Prozesse ist.
Dass Kleinkinder keine kohärente Identität haben, ist seit Jahrzehnten in der Entwicklungspsychologie und Wissenschaft bekannt. Trotzdem konnte sich die Annahme bis in die heutige Zeit manifestieren, dass es sich bei der Dissoziativen Identitätsstörung um eine „aufgespaltene Persönlichkeit“ handle.
In der gesamten Fachwelt – und als Resultat auch in der Gesellschaft – hat sich dieses folgenschwere Narrativ über Jahrzehnte hinweg verfestigt. Grund dafür waren unter anderem (Fach-)Bücher, Ausbildungen, Publikationen und Vorträge von Michaela Huber, wo genau diese Aufspaltung als Faktum dargestellt wurde. Natürlich geht diese Annahme auch auf all die anderen Traumatherapeut:Innen zurück, die das Krankheitsbild der DIS (damals noch Multiple Persönlichkeit) in Deutschland bekannt gemacht haben. Huber selbst hat es allem Anschein nach aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland transportiert, wo der Ursprung dieses Narrativs unter anderem bei Cornelia B. Wilbur zu finden war. Siehe dazu den Artikel: „Gefährliche Vorbilder“.
Sogar in der Neuauflage des Buches „Multiple Persönlichkeiten“ von Michaela Huber aus dem Jahr 2010 steht unverändert geschrieben: „Was muss geschehen, damit ein ganz normales Kind sich im Inneren so stark aufspaltet, dass es eine dissoziative Identität entwickelt?“ (S. 39) Die Ansicht, dass sich ein Kleinkind angesichts von Traumata „aufspaltet“, wurde also seit über 20 Jahren (bedenkt man die Vorauflage des Buches) in die Welt getragen und in Schulungen, Seminaren etc. verbreitet.
Erst im Jahre 2022 schien Huber ihre eigene These zu ändern – siehe dazu den Spektrum Artikel über die Dissoziative Identitätsstörung, in dem sie folgendermaßen zitiert wird: „»Dass die Persönlichkeit zerbricht, ist aber die falsche Metapher«, stellt die Traumatherapeutin [Michaela Huber, Anm.] klar. »Sie kann gar nicht erst zusammenwachsen.« Tatsächlich haben Kleinkinder noch kein stabiles Ich. Wie vieles ist die Fähigkeit, sich als eigenständiges Wesen zu erkennen, schon vor der Geburt in uns angelegt. Um sie zu entwickeln, brauchen wir jedoch Menschen, die sich liebevoll um uns kümmern, sagen Entwicklungspsychologen. Wer nie eine geschützte Umgebung erlebt hat, wer eine Grausamkeit nach der anderen erduldet und am nächsten Tag trotzdem in die Schule muss, bleibt sozusagen in einzelnen Zuständen stecken. Denn nichts davon passt zusammen.„
Michaela Huber spricht also plötzlich von einer „Metapher“, was zuvor von ihr und all ihren Kolleg:Innen als Faktum publiziert wurde. Doch immer noch geistern die lange verbreiteten Thesen vom Aufspalten in Veröffentlichungen über die Dissoziative Identitätsstörung herum, was der Verschwörung von Mind Control immensen Vorschub leistet, die ja besagt, dass Persönlichkeitsanteile bewusst von den Tätern abgespalten werden.
Auch die DIS-Betroffenen, mit denen sich Huber – teilweise in einem persönlichen Kontakt – solidarisiert hat, haben ihre eigene Dissoziative Identitätsstörung auf Grund dieser falschen These „fehlerhaft“ kreiert, zumindest nach außen hin artikuliert. Natürlich unterstelle ich hier kein Bewusstsein, viel mehr glaube ich, dass sie auf Grund der entsprechenden fachlichen Grundlage versucht haben, ein identitätsstiftendes und stimmiges Bild von sich zu erstellen, als sie in den 1990er Jahren mit den sogenannten DIS-Experten Huber, Gast, Reddemann uvm. in Berührung (und Kontakt) gekommen waren.
Hierzu verweise ich auf meinen Artikel „MPS – eine neue Frauenkrankheit“, wo ich über einen Fachzeitschriftenbeitrag aus dem Jahr 1997 von Tanja Schmidt geschrieben habe. Die Eindrücke der Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin über den ersten deutschen MPS-Kongress stimmen mit genau dem überein, was ich als Betroffene in der DIS-Subkultur im Laufe der letzten Jahrzehnte beobachtet habe.
Um Tanja Schmidts Beschreibungen (siehe obigen Link) Hubers eigenen Schilderungen über den ersten MPS-Kongress gegenüberzustellen, hier der im Webarchiv auffindbare Artikel von Michaela Huber:
Quellenseite der PDF: MEG Stiftung
Huber schreibt darin:
„Erst in den 70er Jahren wurde im Zuge der Frauenbewegung der Töchtergeneration das Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder zu einer politischen wie auch persönlichen Angelegenheit. In der 80er und 90er Jahren begann eine neue PsychotherapeutInnen-Generation von den amerikanischen und niederländischen KollegInnen zu lernen, wie dissoziative Störungen behandelt werden können.“
Dieser Artikel liefert eine sehr gute Möglichkeit, um zu rekonstruieren, was dieser Psychotherapeut:Innen-Generation, von der Huber spricht und zu der sie sich selbst zählt, in den 1990er Jahren als Grundlage für ihre „Forschungen“ und Thesen zur Verfügung gestanden hat: unter anderem Vorbilder wie Cornelia Wilbur und Therapieberichte in Form von (Auto)Biografien wie Billy Milligan und Sybil.
An dieser Stelle möchte ich auf einen Artikel von meiner Kollegin Nora Sillan hinweisen, der bereits vor einigen Monaten verfasst, allerdings erst jetzt online gestellt wurde:
Darin wird über das Interview aus dem Jahr 1995 von Dr. Herbert Spiegel und dessen Begegnung mit Sybil berichtet, wo Spiegel die exzessive Falschbehandlung seitens Cornelia Wilbur eindrücklich zur Sprache brachte. Es war also bereits im Jahre 1995 bekannt, dass sich das Störungsbild bei Sybil, nach welchem sich Fachleute jahrzehntelang orientierten, einzig nur durch eine suggestive Hypnose-Therapie ergeben hatte.
In diesem Zusammenhang ist erneut folgendes Video des New York Times-Kanal interessant:
Darin kommt, wie Lydia Benecke im aktuellen WTF Talk vermittelt hat, Dr. David Spiegel (übrigens der Sohn von Herbert Spiegel) auf den Fall Sybil zu sprechen. Man kann in Folge also auf gar keinen Fall sagen, die Forschung wäre damals noch nicht so weit gewesen. Sie war es durchaus, erfuhr dann aber einen fatalen Rückschritt, weil übereifrige (ggf. kommerziell interessierte) Fachleute und feministische Bewegungen in den USA und Europa ihre eigene Agenda verfolgten.
Ich bin im Übrigen selbst eine Feministin und mir über die Notwendigkeit der damals in den 1980er bis 90er Jahren teils aggressiven Strömungen bewusst. Noch heute haben Frauen stark mit dem Patriarchat zu kämpfen und bekommen die oftmals brutalen Machteinflüsse zu spüren. Mit diesem Wissen und Fühlen (Nora und ich sind Frauen, die Gewalt erlebt haben) lässt sich vieles von dem, was damals geschehen ist, nachvollziehen – aber nicht entschuldigen. Irgendwann scheint sich dieser fehlerbehaftete und toxische Prozess verselbstständigt zu haben, sodass wir heute eigentlich fast nur noch dabei sind, das Vergangene zu rekonstruieren, zu analysieren und zu erforschen, um die Wissenschaft endlich in eine souveräne und fundierte Richtung zu lenken.
Ich wiederhole einen Abschnitt aus dem Bericht über den aktuellen WTF Talk:
Urbaniok fügt hinzu, was niemand je bestritten hat, nämlich dass es natürlich grausamste Formen von sexuellem Missbrauch gibt mit dementsprechenden Opfern. Aber: „Opfer von falschen Therapien, von False Memories, von eingeredetem Missbrauch und von Falschbeschuldigungen sind verdammt noch mal auch Opfer.“ Dieses Spannungsverhältnis, erläutert der Psychiater weiter, halten viele Menschen nicht aus und positionieren sich auf der einen oder anderen Seite.
… und genau das ist und bleibt auch unser Anliegen. Es geht um Opfer und genau darum müssen wir manchmal sehr weit zurückschauen, um im Sinne des Opferschutzes weitergehen zu können.
Zusammenfassend:
Erster MPS Kongress in Deutschland: → Schilderung von Tanja Schmidt → Schilderung von Michaela Huber |
Sybil (ein Pseudonym für Shirley Ardell Mason): → „Sybil“ – MPD als Kassenschlager → Ein Interview mit Dr. Herbert Spiegel → „Sybil. A brilliant hysteric?“ |
Zum Weiterlesen: → Fakten und Daten zur DIS/DID |
Die meisten Fakten und Daten stammen u.a. aus der Dissertation von Rosie Waterhouse:
Quelle (zu finden auch in einem Artikel über die Satanic Panic des Journalisten und Autors Bernd Harder. Skeptiker in England und USA warnen vor der „Rituelle Gewalt“-Verschwörungstheorie)