Ein Buch, das schadet: „Irreversible Damage“
Die nicht anerkannte ROGD-Hypothese erhielt im Jahr 2020 durch das Buch „Irreversible Damage“ von Abigail Shrier große Verbreitung, das nun im Kopp Verlag auf Deutsch erschienen ist – ein Verlag, der für die Veröffentlichung von verschwörungstheoretischen Werken bekannt ist.
Warum Abigail Shriers Buch äußerst problematisch ist, untersucht dieser Artikel.
„Es ist eine Geschichte, die Amerikaner hören müssen“, setzt die Abigail Shrier, die übrigens weder Psychologin noch Medizinerin ist, sondern Rechtswissenschaft studiert hat, ihr Buch von Anfang an in einen emotional geframten Rahmen. Dazu streut sie eine Menge an Einzelfalldarstellungen ein. Wenn die Autorin über trans als „Wahn“ („transgender craze“) und „von Internet-Gurus inspiriertes Mimikry“ schreibt, ist sie alles andere als neutral. Im Gegenteil: Sie scheint auf einem emotionalisierten Kreuzzug gegen trans zu sein und heftet sich Kinderschutz auf die Fahnen. Hierbei geht es ihr vor allem um „junge Teenager-Mädchen mit Problemen“, die von einem vermeintlichen Hype angelockt werden („lure troubled young girls“; S. 16), der ihnen durch die Identifikation mit trans Freiheit von Angst und ein Zugehörigkeitsgefühl verspricht: „For these girls, trans identification offers freedom from anxiety’ relentless pursuit; it satisfies the deepest need for acceptance, the thrill of transgression, the seductive lilt of belonging.“ (S. 15)
Soziale Ansteckung
Shriers Buch gründet auf der Hypothese der sozialen Ansteckung. Trotz der heftigen Kritik aus Fachkreisen an ROGD (siehe dazu auch: LINK), die Shrier übrigens als Ausdruck einer „Kultur des Schweigens“ bezeichnet, übernimmt sie 1:1 diese Thesen und betont den Einfluss von Social Media und Peer Groups als Ursache für trans.
Hier stellt sich zuerst einmal die Frage, was unter dem Begriff der sozialen Ansteckung konkret gefasst werden kann:
„Unter sozialer Ansteckung wird der Prozess verstanden, in dem eine Person eine Idee, ein Motiv oder ein Verhalten von einer anderen Person übernimmt (…), meist wird als Voraussetzung für diese Übertragung die soziale Ähnlichkeit zwischen den beiden Akteuren angenommen, die die Übernahme wahrscheinlicher macht. Sozialepidemiologische Studien konnten zeigen, dass sich Netzwerkpartner häufig ähnlich verhalten und ähnliche Gesundheitsgefährdungen aufweisen (…) Diese Befunde werden oft mit dem Mechanismus der (sozialen) Ansteckung (contagion) erklärt, wobei nicht selten offen bleibt, wie genau vor allem die sozialen Ansteckungsprozesse ablaufen oder wirken.“
https://literatur.thuenen.de/digbib_extern/dn061653.pdf
Genau das ist jedoch der springende Punkt: Soziale Ansteckung wird oft schwammig oder metaphorisch benutzt ohne die genauen Wirkmechanismen definieren zu können. Auch die essenzielle Unterscheidung zwischen begünstigenden Faktoren versus kausal auslösenden Faktoren unterbleibt oder wird in einen Topf geworfen: Indem Shrier trans in die vermeintliche Schublade „sozial ansteckende“ Problembewältigungsstrategie schiebt, spricht sie trans als Selbstdefinition deren Identitätsgrundlage ab. Mehr noch: Die Autorin versucht trans-Sein unter Jugendlichen als Modeerscheinung und psychische Erkrankung zu framen und schreckt auch nicht vor fehlerhaften Analogieschlüssen zurück:
„Ein besserer Vergleich sind die Hexenjagden der Heiligen Inquisition, oder Modekrankheiten wie die Nervenleiden des 18. Jahrhunderts, die Nervenschwäche des ausgehenden 19. Jahrhunderts, oder die Magersucht, Bulimie, und das „Ritzen“ im 20. Jahrhundert. Die Hauptrolle spielt dabei eine Darstellerin, die stets gern ihr eigenes Leid und ihren Schmerz in den Mittelpunkt stellt: Das Teenager-Mädchen. Ihr Leid ist sicher echt. Aber in jedem dieser Fälle kommt sie zu einer falschen Selbstdiagnose – es ist eher die Kombination von Einbildung und Einwirkung von außen, als eine psychologische Tatsache. Vor dreißig Jahren hätten sich solche Mädchen vielleicht bis auf die Knochen abgemagert, und sich dabei eine Fettabsaugung gewünscht. Vor zwanzig Jahren hätten solche Mädchen vielleicht eine „unterdrückte Erinnerung“ an Kindesmissbrauch entdeckt. Die neue Teenagermode heißt nicht „vom Teufel besessen sein“, sondern „Genderdysphorie“ und die Heilung heißt nicht Exorzismus, Abführmittel oder Fasten – sondern Testosterontherapie und die „Obenrum-OP“.“
Abigail Shrier, Irreversible Damage, S. 10 f.; übersetzt ins Deutsche
Was US-Skeptiker dazu sagen
Genau in diese Kerbe schlägt auch die Argumentation von „US-Vorzeige-Skeptiker“ Michael Shermer: Für seine „The Michael Shermer Show“ interviewt der Herausgeber des Skeptic Magazine Abigail Shrier ausführlich über ihr Buch und vergleicht die These der sozialen Ansteckung mit der Bewegung von „wiederentdeckten Erinnerungen“ aus den 1990ern (vgl. Minute 23:52 f.) und in Folge auch mit der Satanic Panic (Minute 1:23:10 f.).
Interessant ist, dass diese haltlosen Vergleiche ausgerechnet aus dem Mund eines Skeptikers kommen, der sich klare Wissenschaftsorientierung und Faktenbasiertheit auf die Fahnen geschrieben hat. Dass ROGD von führenden Wissenschaftlern, Expertengremien und Berufsverbänden unisono abgelehnt wird, dürfte ihm bestimmt zu Ohren gekommen sein. Dennoch stellt er sich in seiner Positionierung hinter Abigail Shriers Buch und lässt in selbstimmunisierender Weise jegliche Kritik daran bzw. an der ROGD-Hypothese sofort abprallen. So wurde auf der Webseite des amerikanischen Skeptic Magazine, einer richtungsweisenden Zeitschrift für die internationale Skeptikerszene, eine positive Buchkritik zu Shriers Werk veröffentlicht, die zuvor von der Seite „Science Based Medizine“ entfernt worden war. Was diese tendenziöse Haltung entgegen jeglicher wissenschaftlicher Beweisbarkeit auf einer Skeptiker-Webseite zu suchen hat, bleibt fraglich.
Doch zurück zu Abigail Shrier und den Details ihrer manipulativ-einseitigen Argumentation:
Warum trans und Pro Ana nicht vergleichbar sind
Abigail Shrier baut ihr Buch rund um die Argumentation auf, dass Mädchen im Teenager Alter, die psychische Probleme haben, sich zunehmend als trans identifizieren. Zur Untermauerung bringt Shrier auf zahlreichen Buchseiten den Vergleich zu Essstörungen: Magersüchtige sind z.B. davon überzeugt, ihre Essstörung würde all ihre Probleme lösen. Diese Denkweise überträgt sie auf trans, dass junge Mädchen davon ausgehen, eine Geschlechtsumwandlung würde all ihre Probleme lösen. „Viele wollen nicht Mann sein, sondern nur dem Frau-Sein entkommen“ (vgl. Min 52.30, The Michael Shermer Show).
Hierbei geht die Autorin in Folge noch einen Schritt weiter und vergleicht trans Influencer auf Social Media mit Pro Ana-Webseiten, also Blogs, Foren o.ä., die Anorexie teilweise als Lifestyle glorifizieren. Hierzu schreibt Shrier:
„Die Pro-Anorexie-Seiten ähnelten einer Reihe von Videos, die das Internet zu kolonisieren begannen: Social-Media-Seiten von Trans-Influencern, in denen geborene Mädchen, die sich selbst als „Transgender-Jungen“ oder „Trans-Männer“ bezeichnen, damit prahlen, wie sehr sich ihr Leben verbessert hat, seit sie mit einer Testosteronkur begonnen haben. Der Rausch, den es ihnen verschafft, die Freude über die „glückliche Spur“ dunkler Haare auf ihrem Bauch, das Verschwinden – wie sie betonen – aller sozialen Ängste.“
Abigail Shrier, Irreversible Damage, S. 50 f.; übersetzt ins Deutsche
Dieser Vergleich mit der Pro-Ana-Bewegung greift allerdings zu kurz bzw. rückt die Identifizierung als trans in die Nähe einer psychischen Erkrankung – ein fataler Rückschritt, der dem aktuellen wissenschaftlich-medizinischen Konsens entgegensteht. Das seit 2022 gültige ICD-11 hat Geschlechtsinkongruenz entpathologisiert, diese ist nicht mehr als psychische Störung eingeordnet sondern als „Zustand mit Bezug auf die sexuelle Gesundheit“. Doch diesen Aspekt lässt Abigail Shrier in ihrem Vergleich (bewusst?) außen vor.
Dass ihre Argumentation zu sozialen Medien und Essstörungen nicht haltbar ist, zeigen auch Forschungen zur Entstehung von Essstörungen, die klar zwischen prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenen Faktoren unterscheiden.
In Studien wird das Augenmerk bei Pro-Anorexie-Seiten bzw. Austauschgruppen auf Verstärker-Effekte für die Essstörung gelegt bzw. dass diese der Aufrechterhaltung der Erkrankung durch verspätetes oder unterbliebenes Suchen nach professionellen Hilfsangeboten dienen. Der Einfluss sozialer Medien ist Verstärker, aber nicht (alleiniger) Verursacher einer Esstörung, ist das klare Fazit:
„Social Media Aktivität alleine begründet keine Essstörung. Viele Jugendliche erkranken nicht. Essstörungen entstehen durch das Zusammenspiel verschiedener bio-psycho-sozialer Faktoren. Die Erkrankung stellt einen Lösungsversuch dar und ist Ausdruck tieferliegender Konflikte und Belastungen. Bei individueller Verletzlichkeit, Vorbelastung oder manifestierter Essstörung können soziale Medien ein relevanter Faktor sein, der die Erkrankung auslöst, verstärkt oder zur Aufrechterhaltung beiträgt.“
https://www.konturen.de/kurzmeldungen/essstoerungen-und-soziale-medien/
Eine ähnliche Studie der Universität Ulm untersuchte die Darstellung von Selbstverletzungen auf Instagram (mittlerweile versucht die Plattform durch Löschen solcher Fotos dagegen vorzugehen):
„Die Ulmer Forscher suchten zudem nach Hinweisen, die auf soziale Ansteckung schließen ließen. Im persönlichen Kontakt zwischen Jugendlichen, die selbstverletzendes Verhalten zeigen, spielen Nachahmungseffekte bekanntermaßen eine große Rolle. Die vorgelegte Studie konnte solche Effekte nicht direkt nachweisen. Allerdings sehen die Wissenschaftler in dem Zusammenhang zwischen Verletzungsschwere und Nutzerreaktionen deutliche Hinweise auf soziale Verstärkungseffekte in Sozialen Medien.“
https://www.uni-ulm.de/home/uni-aktuell/article/ritz-bilder-auf-dem-smartphone-ulmer-studie-zu-selbstverletzendem-verhalten-auf-instagram/
Auch im Bereich des selbstverletztenden Verhaltens, ein weiterer von Shrier angesprochener „Trend“, lassen sich soziale Ansteckungseffekte also nicht direkt nachweisen. Nichtsdestotrotz wird auch das von Shrier als „Fakt“ dargestellt.
Fazit
Da sich Abigail Shriers Buch explizit an Eltern von Kindern, die sich als trans identifizieren, wendet, macht es insbesondere problematisch, vor allem, da es die inhärente Transfeindlichkeit äußerst subtil verpackt.
„In der politisch korrekten Ära wäre eine transphobe Abhandlung wirkungslos; Es ist besser, ein solches Buch unter dem Deckmantel der Sorge um die Kinder zu verpacken. Auf diese Weise werden selbst die liberalsten Eltern zuhören. (…) „Dies ist ein transphobes Werk, das als Ratgeber für Eltern getarnt ist. Es ist ein manipulatives Buch, dem es an Beweisen mangelt. Es ist demagogisch und hat nichts mit der Sorge um das Wohlergehen von Kindern und Eltern zu tun. Es ist pures Gaslighting, das darauf abzielt, die Ränge der extremen Rechten zu vergrößern , indem es unseren verwundbarsten Punkt anspricht: unsere Kinder.“
https://www.haaretz.com/israel-news/2023-06-11/ty-article/.premium/israeli-parents-dont-let-transphobic-abigail-shrier-gaslight-you/00000188-9ba2-d467-adee-bfa27b0d0000 (übersetzt ins Deutsche)
Shrier betont, kein „Problem“ mit erwachsenen trans Personen zu haben und argumentiert, wie bereits erörtert, stets rund um Teenager, die sich als trans outen. Dass sie dazu jedoch nur Eltern interviewt, die das trans-Sein ihrer Kinder nicht unterstützen, zeigt einmal mehr ihre Voreingenommenheit und Bias. Demgemäß muss ihr Buch äußerst kritisch gelesen und reflektiert werden, zum Beispiel wie es eine Buchbesprechung auf Psychologytoday aus psychologischer Sicht tut. Hier werden übrigens auch in Einzelfällen – und das ist der springende Punkt – mögliche Überschneidungen mit Dissoziativer Identitätsstörung bzw. Borderline Persönlichkeitsstörung dargelegt, ohne trans per se zu pathologisieren oder in die Sphäre von einer psychischen Erkrankung zu rücken.
Es bleibt zu hoffen, dass Eltern, die dieses Buch ratsuchend lesen, die manipulativen und emotionalisierten Strategien von Shrier durchschauen und die durchwegs einseitige Sicht auf trans als das identifizieren, was sie ist: versteckte Transphobie. Keinesfalls darf Abigails Shriers Buch und die ROGD-Hypothese, die mittlerweile als Grechtchenfrage zur Sichtweise von trans gilt, dazu missbraucht werden, in einem (gesellschafts)politisch aufgeladenem und gespaltenen Feld noch mehr Öl ins Feuer zu gießen.
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