Die sektenhaften Strukturen der Pro Ana-Szene
Ein Bericht des Oxforder „Social Issues Research Center“ aus dem Jahr 2002 zitiert die Selbstbeschreibung der nicht mehr existierenden Webseite namens „Ana’s underground grotto“ folgendermaßen: „This is a gathering point for sentient individuals who are working to cause changes to occur in body in conformity to will. There are no victims here… This is not a place for the faint-hearted, weak, hysterical, or those looking to be rescued. (…)“
Dieser kurze Absatz lässt bereits deutlich das Elitendenken einiger Webseiten der Pro Ana-Szene erkennen, die sich selbst als überaus selbstbestimmt sehen und sich zum Beispiel gegen Schwäche oder Opfermentalität aussprechen. Genau das ist ein Symptom der Krankheit (Kontrolle, Macht, Beherrschung), das innerhalb der Szene entsprechend auch ausgelebt wird. Mit der Fokussierung auf Perfektion kommen diese Gedanken dem diesbezüglich üblichen Streben von Magersüchtigen entgegen.
Wie u.a. diese Abgrenzungen von „wir“ gegen „die anderen“ (in diesem Fall: die Menschen, die nach Ansicht der Pro Ana Anhängerinnen zu „schwach“ wären, um zu hungern) mit sektenartigen Strukturen zusammenhängt, erläutert der folgende Artikel auf Basis einiger typischen Kennzeichen einer Sekte. Die Schweizer Sektenberatungsstelle listet dazu folgende Merkmale auf:
- Hierarchische Struktur
- Autoritäre Führung
- Abgrenzung der Gruppe nach außen
- Leistungen für die Gruppe
- Klares Menschenbild und Schwarz-Weiß Denken
- Absolutheitsanspruch
- Erlösungs- oder Heilsversprechen
- Elitebewusstsein
- Endzeiterwartung
- Keine offene Informationspolitik nach außen
- Selektive Informationspolitik nach innen
- Umgang mit Kritik / Kritikverbot innerhalb der Gruppe
- Milieukontrolle – Überwachung aller Lebensbereiche
- Rücksichtslose Methoden in Anwerbung, Indoktrination, …
- Gedanken- und Gefühlskontrolle durch Erzeugung von schlechten Gewissen und Angst
Zwar gibt es bei der Pro Ana Bewegung keine einzelne autoritäre Führungsfigur, jedoch treten in den meisten Foren (bzw. heutzutage WhatsApp Gruppen) die Admins durchaus mehr oder weniger dominant auf. Insbesondere die alten Pro Ana Webforen waren in der Regel hierarchisch gegliedert, da es eine klare Rangordnungen der User als Probemitglied, Neumitglied, Familymitglied bzw. Moderator und schließlich Admin gab. Entsprechend dieser Abstufungen hatten die Mitglieder Zutritt zu speziellen Unterbereichen des Forums, die z.B. nur Family-Mitgliedern vorbehalten waren, also jenen Userinnen, die bereits länger dabei waren und sich am Forenleben aktiv beteiligten.
Eine Pro Ana Gruppe ist – damals wie heute – streng nach außen abgegrenzt, zumeist besagt eine Gruppenregel, dass keinesfalls Außenstehenden über das Forum erzählt werden darf, insbesondere gegenüber Therapeuten oder Erziehungsberechtigten soll geschwiegen werden. Geheimhaltung gilt oft als das oberste Gebot und korrespondiert auch mit dem zumeist heimlichen Agieren von Esssgestörten, die ihre Sucht im Allgemeinen zu verbergen versuchen.
Dass bei vielen Betroffenen ein klares Elitendenken vorherrscht, wurde bereits zu Beginn des Artikels gezeigt. Dieses Denken kann extreme, ja sogar menschenverachtende Züge annehmen, wenn z.B. als „Fatspo“ (= das Gegenteil von „Thinspiration/Thinspo“, also den üblichen Triggerbildern von sehr dünnen Models oder anderen Magersüchtigen, die zwecks Ansporn verschickt bzw. gepostet werden) Bilder von adipösen Menschen mit dementsprechend abwertenden Kommentaren gepostet bzw. Tipps gegeben werden, sich ein solches Anti-Triggerbild an den Kühlschrank zu kleben. Hier ein Beispiel für entsprechende Kommentare:
„Das sind ihre schweinischen Artgenossen, pure MASSE. Groß wie ein Berg in ihren unförmigen Kleidern“…
Quelle: Private Pro Ana Webseite aus dem Jahr 2005. (Inzwischen ist die Seite gelöscht worden, wir würden aber auch keine entsprechenden Verlinkungen tätigen.)
Mit diesen Abwertungen projizieren sie ihr Denken und Fühlen auf andere Menschen, was sich eigentlich auf die eigene Person bezieht, wenn sie u.a. zu viel gegessen haben. Hier ein Auszug aus einem privaten Pro Ana Tagebuch einer Webseite aus 2004:
„24. Mai 1999 Ich bin ein fetter Troll. Ich war die ganze Woche so brav, weil ich die ganze Woche xxx genommen hatte. Aber heute esse ich natürlich zu viel. Ich kann nicht einmal kotzen, weil ich zu erschöpft bin. Ich bin dazu verdammt, einen Tag lang wie ein aufgeblähter Wal zu sein.“
Privates Tagebuch – mittlerweile gelöscht (Der Name eines Medikaments wurde mit xxx ersetzt).
Begleitend zum Elitendenken herrscht bei den meisten Pro Ana Anhängerinnen eine mehr oder weniger ausgeprägte fehlende Krankheitseinsicht. Das Krankheitsbild von Essstörungen wird zwar nicht per se abgestritten, jedoch wird in den meisten Fällen für sich selbst negiert, daran zu leiden. Dazu passt der in der Szene oft gehörte Slogan „anorexia is a lifestyle, not a disease“. Dieser verkennt und pervertiert ganz bewusst die Gefährlichkeit von Magersucht, also der psychischen Erkrankung mit der höchsten Mortalitätsrate. Eine Pro Ana Gruppe – insbesondere in deren Anfangszeit – wandte sich klar gegen Therapie, da die Essstörung sehr oft als Lifestyle glorifiziert und demgemäß das ihr innewohnende Gefährdungspotenzial völlig ignoriert wurde. Dies kann neben einem Absolutheitsanspruch durchaus auch als Heilsversprechen im weiteren Sinne interpretiert werden, da indirekt vermittelt wurde, innerhalb der Gruppe über immer stärkere, individuelle Gewichtskontrolle die allgemeinen Probleme und Schwierigkeiten im Leben lösen zu können. Dazu gab es einen Austausch an Tipps, die von banalen Abnehm-Tricks bis hin zu extrem gefährlichen Ratschlägen reichten, wie bestimmte verschreibungspflichtige Medikamente, Aufputschmittel und Amphetamine zweckentfremdet zum Abnehmen missbraucht werden könnten.
Kritikverbote per se waren in den meisten Fällen nicht an der Tagesordnung, jedoch bestimmte die Admiss, wer aus dem Forum hinausgeworfen wurde, was meist aufgrund von geringer Onlinebeteiligung der Fall war. In manchen Foren wurde eine Mindestanzahl an Beiträgen pro Woche erwartet.
In manchen Foren/Gruppen mussten wöchentliche (bzw. seltener auch tägliche) Waagebilder geschickt werden bzw. Körperbilder in Unterwäsche. Es gab starken Gruppendruck in Form von BMI-Rankings und wer das definierte Abnehmziel – das sich in Extremfällen in Größenordnungen bis zu mehreren Kilos die Woche bewegte – nicht einhielt, wurde verwarnt und schließlich aus der Gruppe geworfen.
Rücksichtslose Methoden in der Anwerbung, ein weiteres Kennzeichen einer Sekte, können insofern verortet werden, als dass insbesondere heutzutage immer noch auf einschlägigen Plattformen gezielt nach Mitgliedern für WhatsApp Gruppen geworben wird, teilweise mit sehr niedrigen Altersgrenzen ab 12 oder 14 Jahren.
Die früheren Webforen enthielten in den allermeisten Fällen eine Art „Disclaimer“, wo festgehalten war, dass Interessierte, die um eine Aufnahme ersuchten, bereits eine Essstörung haben mussten, um aufgenommen zu werden. Dazu musste meist ein kurzer Steckbrief ausgefüllt bzw. ein kleines „Motivationsschreiben“ für den Beitritt verfasst werden. Dies ist einerseits Ausdruck des bereits genannten Elitendenken, um keine „Wannabes“ – bzw. im Jargon der Ana-Community „Wannarexics“ – in die Gruppe zu lassen und „unter sich“ zu bleiben. Andererseits kann es auch die – jedoch meist nur halbherzig praktizierte – Überzeugung darstellen, niemanden in eine Essstörung hineinziehen zu wollen, der nichts bereits drinnen steckte. Es zeigt auch die gewisse Ambivalenz, welche sich in das Elitendenken mischte, über eine bei manchen Anhängerinnen (zeitweilig) vorhandene Krankheitseinsicht, die jedoch meist rasch wieder schwand.
Alles in allem können auf Basis dieser Argumentation zumindest 9 von 15 Punkten, welche Charakteristika einer Sekte beschreiben, als erfüllt angesehen werden bzw. es kann von sektenhaften Strukturen der Pro Ana Bewegung gesprochen werden.
Abseits dieser Sektencheckliste darf jedoch ein Aspekt nicht untergehen: Würde ein Pro Ana-Foren bzw. eine derartige WhatsApp Gruppe nur Nachteile bieten, hätten diese wohl kaum den Zulauf unter esssgestörten Jugendlichen, den sie haben.
Mit einer Essstörung geht sehr oft eine große soziale Isolation einher, sodass sich Betroffene von ihrem Umfeld nicht verstanden fühlen. Im Internetzeitalter ist hier nun der Austausch mit anderen Betroffenen via Netz verlockend, sodass diese nur allzu leicht auf Pro Ana Seiten landen. Dort wird Gemeinschaftsgefühl und Zugehörigkeit geboten, was ansonsten für viele nur schwer erreichbar ist. Die Essstörung ist das gemeinsame Thema der Gruppe, jedoch wird auch über alle anderen Bereich des Lebens offen diskutiert. Für viele Betroffene ist dies das erste Mal, dass sie „frei Schnauze“ über all ihre Probleme sprechen und sichergehen können, Verständnis zu ernten. Verbindendes Element der Gruppe bleibt der gemeinsame Fokus auf das Abnehmen als vermeintliche Problemlösungsstrategie sowie das ungeschriebene Gesetz in Ana-Gruppen über eine bedingungslose Wertschätzung. Dies kann bis zu permanentem „Love Bombing“ (auch ein Kennzeichen von Sekten) gehen, wobei dieser Mechanismus nicht bewusst forciert wird, sondern sich aus den gruppendynamischen Strukturen ergibt.
Der Absprung aus derartigen Gruppen kann sehr schwer sein, weil damit auch der Verlust sämtlicher dort geknüpfter Freundschaften einher geht, welche mitunter so tief sind, dass sich sogar beste Freundinnen in der Szene finden, deren Kontakt sich bis ins reale Leben zieht.
Aus diesen genannten Gründen ist oft eine nachhaltige Loslösung von den sektenhaften Strukturen der Pro Ana Szene sehr schwer und die Betroffenen erleben immer wieder Rückfälle, auch nachdem sie sich bereits in Therapie befinden. Hier gilt es Ersatzangebote zu schaffen und die emotionale Lücke zu füllen, die ein derartiger Ausstieg mit sich bringt. Diesen Ersatz versuchten Ex-Pro Ana Foren, wie es sie in der Hochblüte der Webforen auch im deutschen Raum gab, zu füllen. Diese Foren wurden von ehemaligen Anhängerinnen der Pro Ana Szene geleitet und wandten sich bewusst an andere Aussteigerinnen. Mit den sozialen Medien ist auf Instagram eine große Recovery-Szene entstanden. Warum diese betroffenengeführten Recovery-Accounts samt dazugehöriger Bubble jedoch auch nicht ungefährlich sind, da sie allzu zu oft „leichte Genesung“ versprechen, wenn man nur das Essverhalten anpasse und sich gesund – meist mit Lightprodukten – ernähre, erläutert ein separater Artikel.