Moralische Panik – ein kurzer Überblick
Der Begriff der moralischen Panik (moral panic) kommt aus dem angloamerikanischen Raum und wird als Phänomen definiert, „bei dem eine soziale Gruppe oder Kategorie aufgrund ihres Verhaltens von der breiten Öffentlichkeit als Gefahr für die moralische Ordnung der Gesellschaft gekennzeichnet wird. Ziel des öffentlichen Aufruhrs ist die Unterbindung des als Bedrohung empfundenen Verhaltens auf langfristige Sicht.“
Oft werden durch Stereotypisierung bereits marginalisierte Gruppen als vermeintliche Gefahr für die gesamtgesellschaftliche Moral stigmatisiert. Ein überzeichnetes, manchmal karikaturhaftes Bild einer Subkultur/ Gruppe wird bewusst dazu eingesetzt, einen gesellschaftlichen Aufschrei zu konstruieren bzw. Ängste vor dem (oder den) „anderen“ zu schüren (Othering).
„Es gibt also ein wiederkehrendes soziales Phänomen, bei dem viele Menschen von der Angst erfasst werden, dass die soziale Ordnung durch ein Verhalten oder eine Praxis bedroht wird, die sowohl schädlich als auch unmoralisch oder böswillig ist. Dieser Zustand der Panik besteht, obwohl es dafür keine wirklichen Grundlagen gibt.“
Quelle: https://www.aier.org/article/the-anatomy-of-a-moral-panic/, übersetzt aus dem Englischen
Das soziologische Konzept und der Begriff der moralischen Panik gehen auf den südafrikanischen Soziologen Stanley Cohen zurück. In seinem 1972 erschienen Buch „Folk Devils ans Moral Panics“ beschreibt er die Reaktion der britischen Öffentlichkeit und Medien auf eine Rivalität von Jugendsubkulturen der 1960er und 70er und leitet daraus ein Theoriegerüst ab.
Prozessartiger Charakter
Cohen definiert dabei einen mehrstufigen Prozess: Zunächst wird etwas als Bedrohung für soziale Normen bzw. die Gesellschaft per se definiert und anschließend von Medien (bzw. in der heutigen Zeit social media) in vereinfachender Weise hochstilisiert und erhält als Thema breite öffentliche Aufmerksamkeit. In Folge dessen werden als Antwort auf die vermeintliche Bedrohung Gesetze und Regelungen geschaffen, die zu sozialen Veränderungen beitragen. Moralische Panikphänomene dienen u.a. dazu, von aktuellen Problemen abzulenken, einen Sündenbock zu schaffen und damit im Endeffekt zur Durchsetzung einer politischen Agenda.
„Such panics are fostered by mass media and exploited by self-appointed moralists and politicians.“
Quelle: https://daily.jstor.org/the-first-moral-panic-london-1744/
Erich Goode und Nachman Ben-Yehuda veröffentlichten 1994 ihr Buch „Moral Panics: The Social Construction of Deviance“ und definierten darin die zentralen Schlüsselelemente einer moralischen Panik (vgl. Goode, Ben Yehuda, Neuauflage 2009, S. 37):
- Besorgnis (concern): ein erhöhtes Level an Besorgnis über die Verhaltensweise einer (marginalisierten) Gruppe entsteht in der Allgemeinheit
- Feindseligkeit (hostility): Diese Besorgnis entwickelt sich zur gemeinsam geteilten Feindseligkeit („wir gegen die“-Mentalität, Othering, stereotypisiertes „Feindbild“)
- Übereinstimmung (consensus): Es kommt zu einem (teilweisen) gesellschaftlichen Konsens über die vermeintliche Gefahr der Gruppe
- Disproportionalität (disproportionality) Die gesellschaftlich wahrgenommene „Gefahr“ steht in keiner Weise in einer Verhältnismäßigkeit zu ihrer objektiven Größenordnung. Hierzu werden auch Statistiken verfälscht.
- Ausmaß (volatility) Moralische Paniken kommen auf und verschwinden im Laufe der Zeit wieder bzw. verändern sich.
Von der Konstruktion ist es ein Zusammenspiel zwischen Medien, Politik und Individuen, welche das Feuer einer solchen Moralpanik schürt:
„Such panics are fostered by mass media and exploited by self-appointed moralists and politicians.“
Quelle: https://daily.jstor.org/the-first-moral-panic-london-1744/
Diese wechselseitige Interaktionsdynamiken zwischen den verschiedenen Akteuren weisen bereits auf die möglichen Profitquellen dieses moralischen Sturms der Entrüstung hin: Neben einer Auflagesteigerung bzw. Klickzahlen seitens Massenmedien dient dieser zur Reichweitensteigerung in den sozialen Medien und Lobby-Gruppen bzw. politischen Gruppen zur Durchsetzung ihrer Interessen („moral entrepreneurs“). Eine Moralpanik geht also weit über ein rein massenmedial inszeniertes Phänomen hinaus (vgl. Cree, Clapton, Smith: Revisiting Moral Panics, Cree, S. xviii f.)
Ein aktuelles Beispiel für derartige Entwicklungen ist die „bathroom bill“ , also gesetzliche Regelungen in mehren US-Bundesstaaten, die den Zugang zu öffentlichen Toiletten für trans* Personen gesetzliche festschreiben. Diese Regelungen müssen im historischen Kontext der transgender Moralpanik betrachtet werden, die seit den 2010er Jahren in den USA kontinuierlich vorangetrieben wird. (siehe auch: Ein Trans-Rückblick auf 2017: das Jahr der moralischen Panik der Transgender auf engl.) Zu dieser Thematik werden mehrere separate Artikel folgen – stay tuned.
Historischer Abriss
Moralische Panikphänomene sind jedoch weitaus älter und gehen bereits Jahrhunderte zurück. Ein oft zitiertes Beispiel für eine Moralpanik sind die Salemer Hexenprozesse im Jahr 1692 in Massachusetts, wo einige Frauen, die ohnehin bereits am Rande der Gesellschaft standen, als Hexen angeklagt und getötet wurden. Diese Panik, die sich als Massenhysterie verbreitete, stärkte in Folge die damalige puritanische religiöse Führung, da Hexerei als essenzielle Bedrohung christlicher Werte angesehen wurde. Für eine detaillierte Darstellung siehe: Die Hexenprozesse von Salem.
Beispiele aus dem 20. und 21. Jahrhundert sind der „Red Scare“, die in einer kollektiven anti-kommunistischen Hysterie politisch Linke stigmatisierte und verfolgte (Stichwort: McCarthy-Ära) sowie die AIDS-Krise der 1970er und 80er mit der Moralpanik, die homosexuelle Communitys als Sündenböcke brandmarkte, sowie eine zunehmende Islamophobie nach den Anschlägen des 11. September, wo Muslime pauschal als Terroristen geframt wurde. Natürlich gehört auch die Entstehung und Verbreitung der Satanic Panic ausgehend von den USA zu den moralpanischen Phänomenen.
Quellen:
- Subkulturen und Soziologie auf engl.
- Die Anatomie einer moralischen Panik auf engl.
- Moralische Panik Und Volksteufel (Cohen 1972) auf engl.
Leitfaden Verschwörungstheorien
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