DIS-Diagnose in keinem einzigen Fall bestätigt
Prof. Dr. Stefan Röpke, seit 2016 Professor an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité, forscht zu Traumafolgestörung und ist Leiter verschiedener Forschungsgruppen. Seine Publikationsliste umfasst mehr als 150 Publikationen u.a. zu Borderline, Dissoziation und PTBS in internationalen Fachjournals.
Beim jüngsten DGPPN-Kongress Ende November 2023 leitete Stefan Röpke den Programmpunkt zum Thema „Dissoziative Identitätsstörung und rituelle Gewalt: Fakten und Fiktionen“. In seinem Vortrag äußerte sich der Psychiater sehr klar über DIS in seiner klinischen Tätigkeit: „Trotz zwanzig Jahre Arbeit mit Patienten mit schweren Traumatisierungen konnte ich selber nie bei einem Patienten diese Diagnose vergeben. Und alle Patienten, die uns zugewiesen wurden mit der Verdachtsdiagnose oder Vordiagnose, ließen sich immer besser durch andere Diagnosen erklären.“
Im umfangreichen Spiegel-Interview von Piltz/Lakotta aus dem März 2023 erzählt Röpke über seine erste Patientin vor zwanzig Jahren, die von satanistisch-rituellem Missbrauch berichtete, konkrete Nachforschungen zu ihren Angaben liefen damals völlig ins Leere. Mittlerweile überblickt der Psychiater mehr als 40 Fälle, in denen Patientinnen nach einer Therapie glauben, Opfer von ritueller Gewalt und Mind Control zu sein. Doch nach intensiven klinischen Beobachtungen habe sich die Diagnose in keinem einzigen Fall bestätigen lassen (vgl. ebd. S. 40).
Problematik des Erhebungsverfahrens SKID-D
Röpke bezieht sich in seinem DGPPN-Vortrag auch auf das SKID-D, das strukturierte klinische Interview gemäß DSM IV für dissoziative Störungen. Die Kurzfassung dieses Erhebungsinstruments bietet u.a. der Schweizer Psychiater Jan Gysi in eingescannter Version auf seiner Webseite zum Download an.
Dieses Erhebungsinstrument gilt als Goldstandard, doch bei dessen Verwendung an einer Station, wo eine hohe Prävalenz an Traumafolgestörungen wie PTBS oder Borderline vorherrscht, werde man zu sehr hohen Prävalenzzahlen für DIS kommen, so Stefan Röpke. Die Frage sei allerdings, ob wirklich das erfasst werde, was das Grundkonzept meint.
Ein Blick in den Fragebogen bestätigt diese Ansicht: Betrachtet man z.B. die Kategorien zu Identitätsunsicherheit und Identitätsänderung, fällt auf, dass die dortigen Fragen auch von Menschen mit einer Borderline Erkrankung positiv beantwortet werden können, da gerade dort eine Inkohärenz des Identitätserlebens ein zentraler Aspekt der Störung ist:
- „70. Haben Sie jemals das Gefühl gehabt, daß in Ihrem Inneren ein Kampf stattfindet?
- 71. Haben Sie jemals das Gefühl gehabt, daß in Ihrem Inneren ein Streit darum stattfindet, wer Sie eigentlich sind
- 73. Haben Sie sich jemals unsicher gefühlt, wer Sie eigentlich sind?
- 80. Haben Sie sich jemals so gefühlt oder so verhalten, als seien Sie ein Kind?
- 81. Haben Sie sich jemals so verhalten, also ob Sie eine völlig andere Person wären?“
(S. 27 des PDF)
Wie ordnet Stefan Röpke nun das SKID-D Interview in der Praxis ein? Der Psychiater spricht bei seinem Vortrag jeweils von einer großen Gruppen an Menschen mit Borderlinestörungen sowie (komplexen) posttraumatischen Belastungsstörungen. Dazu komme eine klinisch kleinere Gruppe mit dissoziativen Störungen. Als Schnittmenge dieser Erkrankungen, die er mit überlappenden Kreisen skizziert, trete eine hohe Überlappung dissoziativer Symptome auf und Identitätsstörungen, die typisch für die Borderlinestörung sind.
Genau in diesem Cluster, den Röpke auf seiner Präsentationsfolie „Dissoziative Symptome Identitätsstörung“ bezeichnet, könne man einen Großteil der Patienten diagnostizieren, die beim SKID-D die Kriterien für eine Dissoziative Identitätsstörung erfüllen.
Sein Fazit:
Die Diagnose der DIS ist zur Klassifizierung der meisten Patienten mit dissoziativen Symptomen nicht hilfreich. Patienten mit dem Verdacht auf DIS können oft durch andere Diagnosen wie BPS oder kPTBS besser beschrieben werden.