Wie die DIS-Historie verfälscht wird
Autorinnen: Marvel Stella und Nora
Ich möchte an dieser Stelle auf den allerersten Fall einer Dissoziativen Identitätsstörung aus dem Jahre 1646 eingehen, da ich die Informationen darüber als bezeichnend für das heutige Informations-Chaos empfinde.
Als erstes zitiere ich Frank W. Putnam, der als Pionier in der Forschung über DIS gilt:
„Bliss (1980) schreibt Paracelsus den Verdienst zu, 1646 den ersten DIS-Fall beschrieben zu haben. Es handelte sich um eine Frau, die eine Amnesie gegenüber einer Alter-Persönlichkeit entwickelt hatte, welche ihr Geld stahl.“
Putnam, Frank W.: Handbuch Dissoziative Identitätsstörung, Neuauflage 2021, S.47
Da mich die historischen Ursprünge der Dissoziativen Identitätsstörung durchaus interessieren, war mir diese Aussage zu schwammig. Ich konnte an Hand dieser simplen Beschreibung nicht erkennen, dass es tatsächlich um einen DIS Fall ging.
Um mir darüber ein genaueres Bild machen zu können, schaute ich mich im Internet um. Auf der Seite „Dissoziation und Trauma“ steht in einer PDF:
„Die erste konkrete medizinisch-psychologische Beschreibung von DIS gab Paracelsus (1646).“
Quelle: PDF Datei
Diese Aussage fand ich noch merkwürdiger als die von Putnam. Wie war es im Jahre 1646 möglich, dass jemand eine „konkrete medizinisch-psychologische Beschreibung“ überliefern konnte? Wer war Paracelsus genau, welche Ausbildungen und Qualifikationen besaß er?
- Sein eigentlicher Name lautete »Phillipus Theophrastus Aureolus Bombast von Hoheinheim«.
- Paracelsus wurde 1493 in Einsiedeln (Schweiz) geboren.
- Er war der Sohn eines Arztes und wurde in Wien und Ferrara selbst zum Arzt ausgebildet.
- Er galt als Renaissance-Alchemist, Materietheoretiker und christlicher Apologet.
- Paracelsus war der Begründer einer neuen Heilkunde (an die Stelle der überlieferten mittelalterlichen Säftelehre trat die chemische Biologie und Pathologie).
- Er erkannte neue pathologische Zusammenhänge, beschrieb neue Krankheitsbilder, schrieb die erste Abhandlung über die Gewebekrankheiten und förderte die Konstitutionslehre.
Nun haben wir allerdings ein Problem: Paracelsus starb bereits im Jahre 1541 in Salzburg. Wer also war der berüchtigte Paracelsus, der 1646 die „erste konkrete medizinisch-psychologische Beschreibung“ von einer DIS-Betroffenen herausgab?
Hat niemals irgendjemand geforscht? Auf fast jeder Seite, die sich mit dem Thema »Dissoziative Identitätsstörung« befasst, steht dieselbe Aussage. Hat Eugene L. Bliss (Putnam, 2021, S. 47) irgendetwas in die Welt gesetzt, was alle in Folge abgeschrieben haben? Sogar Frank W. Putnam selbst? Er schien sich bei dem, was ich eingangs zitierte, überaus sicher zu sein, dass es sich tatsächlich um einen DIS-Fall handelte, immerhin sprach er sogar von einer »Alter-Persönlichkeit«.
Nora und ich wollten es ganz genau wissen, darum sind wir gemeinsam auf die Suche nach dem Ursprung gegangen.
Betrachten wir zunächst Eugene L. Bliss, der diese Information verbreitet hat. Mich interessiert, wie er 1980 zum Thema Multiple Persönlichkeitsstörung gestanden ist.
Ian Hacking schrieb dazu in seinem Buch »Multiple Persönlichkeit. Zur Geschichte der Seele in der Moderne«:
„Eugene Bliss, eine weitere Gründergestalt der multiplen Persönlichkeitsbewegung, schrieb 1980: „In den Bereich der Persönlichkeiten einzutreten, ist von geradezu kindischer Einfachheit, denn der Schlüssel zur Tür ist die Hypnose und diese Patienten eignen sich dafür ausgezeichnet. Ebendies ist die Welt der Hypnose. Jahrzehntelang verborgene Persönlichkeiten lassen sich ansprechen und befragen; man stößt auf vergessene Erinnerungen, die der Patient mit der ganzen Gefühlsstärke eines aktuellen Ereignisses wiedererlebt‘.“
Bliss E.L.,: Multiple personalities. A report of 14 cases with implications for
schizophrenia and hysteria. Archives of General Psychiatry, 37, 1980, S. 1388, zit.n. Hacking, Ian: Multiple Persönlichkeit. Zur Geschichte der Seele in der Moderne, 1996, S. 45
Diese und ähnliche Aussagen lassen darauf schließen, dass Bliss überaus begeistert war. Ein Problem, was sich durch die gesamte Geschichte zieht – bis zur heutigen Zeit. Faszination und Begeisterung seitens der Gesellschaft und vor allem der Therapeuten sind nun mal leider Mitgestaltungsfaktoren, die das Krankheitsbild verstärken oder gar erzeugen. Siehe: Dissoziative Identitätsstörung.
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass diese Begeisterung dafür gesorgt hat, eine Falsch-Information zu veröffentlichen, die alleine auf Grund der Jahreszahl nicht zutreffen kann. Vielleicht war in dem Buch von Putnam aber auch einfach ein Zahlendreher drin? Vielleicht sprach Bliss von 1546? Oder das Buch wurde posthum veröffentlicht?
Nora und ich wollten es noch genauer wissen und wir wurden fündig. Das wird nun ein etwas längeres Zitat, da wir alles Wesentliche ins Deutsche übersetzt haben:
Editorial: Ein neues Archiv, ein neuer Herausgeber und ein altes Rätsel (Jennifer Freyd) „Zum Schluss ein altes Rätsel: Ein Doktorand, der Artikel für das „Dissociation & Trauma“ Archiv gesucht hatte, hatte mich auf ein experimentelles Feature der Suchmaschine Google aufmerksam gemacht, das Google Timeline genannt wird. (www.google.com/experimental). Als ich dieses Tool verwendete, fand ich eine Referenz zu Berichten einer Darstellung aus 1646 von Paracelsus, einem medizinischen Autor aus dem 16. Jahrhundert. Paracelsus, so wird berichtet, schrieb von einer Frau, die eine Amnesie über eine Alter-Persönlichkeit hatte, die ihr Geld stahl. Das hat meine Aufmerksamkeit gefangen: Wenn die Berichte über Paracelsus Schriften korrekt waren, dann wäre das möglicherweise ein interessantes Beispiel vor 1800 über dissoziative Amnesie. (Für andere Beispiele siehe Freyd 2007). Ich begann eine Suche um eine Quelle für diese Zuschreibung zu Paracelsus zu finden. Die Suche war faszinierend aber bis heute ohne klares Ergebnis. Eine häufige Zitation auf Webseiten für die Paracelsus Zuschreibung ist das Buch von Putnam aus 1989: Diagnose und Behandlung von Dissoziativer Identitätsstörung. In diesem Buch schrieb Putnam: „Bliss (1980) schreibt Paracelsus den Verdienst zu, 1646 den ersten DIS-Fall beschrieben zu haben. Es handelte sich um eine Frau, die eine Amnesie gegenüber einer Alter-Persönlichkeit entwickelt hatte, welche ihr Geld stahl“ (S. 28). Im Aufsatz von Bliss fand ich diesen Satz: „Paracelsus (1646) notierte einen Fall, in dem eine Frau ihr Geld gestohlen hatte, während sich das Subjekt an nichts mehr erinnerte.“ (S. 1388) Bliss gab als Fußnote ein Buch von Völgyesi (1963/66) mit dem Titel: Menschen- und Tierhypnose an. Ich konnte eine Übersetzung aus 1966 finden von der 1963 Ausgabe von Völgyesi. Er schrieb ursprünglich auf Deutsch und die 1966 Übersetzung war die zweite Auflage von Menschen- und Tierhypnose. (Ich konnte kein Exemplar der ersten Auflage von Völgyesis Buch finden.) Der Bericht über den Amnesie-Fall von Paracelsus wird in der zweiten Auflage wie folgt wiedergegeben: „In seiner Opera (Straßburg, 1646, Vol 2, S. 553) beschreibt Paracelsus im Detail wie Mönche vom Kloster in der Nähe von Ossiach in Kärnten Patienten aus der Umgebung geheilt hatten, indem sie sie einen Kristall-Ball anschauen ließen bis sie einschliefen. Er war auch sehr interessiert am Phänomen des mondsüchtigen Verhaltens und auch an spontan und artifiziell erzeugten Somnambulismus. Er zitierte Beispiele dazu: Zum Beispiel hatte die Wirtin einer Taverne bei Basel ihre Bediensteten viele Monate lang angeklagt, ihre täglichen Einnahmen zu stehlen. Eines Tages fand sie Blut auf ihrem Bettzeug und am Tisch, wo sich auch Stücke aus zerbrochenem Glas befanden. Es kam dann heraus, dass ihr „zweites Selbst“ als Schlafwandler ihr eigenes Geld gestohlen hatte, was ihr „Originales Selbst“ später intakt auf dem Dach versteckt gefunden hatte. Das „Originale Selbst“ erinnerte nichts von dieser Aktivität.“ (Völgyesi, 1963/1966, S. 16) Ich lege die ganze Zitation dar, weil es für mich nicht komplett klar ist, ob das Zitat, das Paracelsus zugeschrieben wird, die Wirtin dieser Tavernen Geschichte zu inkludieren scheint, oder ob sich diese Zitation nur auf die Geschichte mit den Mönchen bezieht. Es ist jedoch klar, Bliss hat Völgyesi interpretiert, dass dieser Paracelsus (1646) zitiert habe für diesen Fall eines „Zweiten Selbst“. Zu meiner Verwunderung hat die zitierte Stelle aus dem Buch von Völgyesi keine Referenz zu Paracelsus (1646). Weiters was es mir nicht möglich, in keiner Liste oder Quelle, eine Referenz zu einem Buch namens „Opera“ aus 1646 von Paracelsus zu finden. Ein Rätsel in meiner Schnitzeljagd war es auch zu entdecken, dass Paracelsus im Jahr 1541 verstorben war. Viele seiner Werke wurden posthum publiziert, aber typischerweise nicht ein Jahrhundert später. Könnte 1646 ein Tippfehler für 1546 sein? Ich konsultiere eine Reihe von zusätzlichen Büchern über Paracelsus und seine Schriften und suchte nach mehr Informationen, aber ich fand immer nur Sackgassen. Ich ging dazu über an Kollegen und Wissenschaftler in Geschichte und Wissenschaftsgeschichte zu schreiben, um ihre Vorschläge zu erfragen. Eines Tages gab mir ein Kollege in der Abteilung für Geschichte hier an der Universität Oregon den Namen eines Historikers in Chicago, der mich an einen Wissenschaftler aus Deutschland verwies. Von einem Psychologie-Kollegen in Deutschland bekam ich eine Email Adresse dieses deutschen Wissenschaftlers, ich erklärte, dass ich keine klare Zitation zu einem Primärtext von Paracelsus finden konnte, was die Zuschreibung dieser Aussage zu Multipler Persönlichkeit betraf. Schlussendlich wurde mein Email an Dr. Peter Kreuter, den wissenschaftlichen Mitarbeiter des Paracelsus Projekts am Medizinhistorischen Institut der Universität Bonn, weitergeleitet. Indem er im Original lateinische und deutsche Texte las, suchte Kreuter dann netterweise nach Antworten zu meiner Frage. Bis jetzt konnte er die Paracelsus Quelle nicht finden. Er hat mir jüngst Folgendes berichtet: „Ich fand in Völgyesis „Menschen- und Tierhypnose, Zürich 1963, S. 28-29 die Basis Information über den sogenannten Paracelsus-Fallbericht über Dissoziation (die Frau, die in Blut und zerbrochenem Glas aufgewacht war). Völgyesi hat als Quelle angegeben: „Opera, Ed. Straßburg 1646, Band 2, S. 553“ … aber wir haben keine Edition, die in Straßburg in jenem Jahr herausgegeben wurde. 1618 ja… 1659 ja… nichts für 1646, nichts für 1546. Aber für 1546 haben wir einige Bücher, die in Straßburg gedruckt worden waren. Eines davon war sein „Buch der Chirurgie“ – vielleicht hat Völgyesi nur einen schlimmen Fehler hinsichtlich des Publikationsjahres gemacht? Wir werden sehen.“ (P.M. Kreuter, persönliche Kommunikation, 28. März 2008, mit Genehmigung verwendet) Auch wenn ich bis jetzt mein Paracelsus Rätsel nicht gelöst habe, habe ich eine große Bewunderung für Historiker entwickelt und ich habe nicht aufgegeben. Vielleicht wird einer von Ihnen, geschätzte Leser, eine Antwort oder den Schlüssel liefern. Vielleicht wird dieses Journal in Zukunft eine Lösung für das Paracelsus Rätsel veröffentlichen und unser Archiv wird ein neues Stück aus den 1500-er Jahren hinzufügen.“ Jennifer J. Freyd, PhD Department of Psychology University of Oregon 227 University of Oregon Eugene, OR 97403-1227 (E-mail: jjf@dynamic.uoregon.edu) Literaturangaben: Bliss, E. L. (1980). Multiple personalities: A report of 14 cases with implications for schizophrenia and hysteria. Archives of General Psychiatry, 37, 1388–1397. Freyd, J. J. (2007). Archiving dissociation as a precaution against dissociating dissociation [Editorial]. Journal of Trauma & Dissociation, 8(3), 1–5. Goettmann, B. A., Greaves, B. G., & Coons, M. P. (1994). Multiple personality and dissociation, 1791–1992: A complete bibliography (2nd ed.). Lutherville, MD: Sidran Press. Putnam, F. W. (1989). Diagnosis and treatment of multiple personality disorder. New York: Guilford Press. Rivers, W. H. R. (1920). Instinct and the unconscious: A contribution to a biological theory of the psycho-neuroses. Cambridge, England: Cambridge University Press. Völgyesi, F. A. (1966). Hypnosis of man and animals. Translated by M. W. Hamilton. Baltimore: Williams & Wilkins. (Original work published 1963.) |
Quelle:
Der Leser wird auf Anhieb erkennen, dass die Autorin dieses Artikels genauso versessen darauf war, den Ursprung dieser Paracelsus-Quelle heraus zu finden wie Nora und ich. 😉
Was also liegt hier vor?
Die eigentliche Aussage von Bliss war: »Paracelsus (1646) notierte einen Fall, in dem eine Frau ihr Geld gestohlen hatte, während sich das Subjekt an nichts mehr erinnerte.« (a.a.O., S. 1388)
Beschrieben wird also eine Amnesie. Kann man daraus tatsächlich den ersten Fall einer Dissoziativen Identitätsstörung ableiten? Vor allem stammt diese Information im Ursprung ja noch nicht einmal von Bliss, sondern aus einem Buch von Völgyesi (1963/66) mit dem Titel: »Menschen- und Tierhypnose.« Dieser beschreibt, dass Paracelsus sich für das mondsüchtige Verhaltens und den Somnambulismus interessierte. Es könnte also durchaus sein, dass es hier schlicht und ergreifend um eine Frau ging, die unter Schlafwandeln litt, was in keiner Weise auf eine Dissoziative Identitätsstörung hinweist.
Doch damit ist das Rätsel noch nicht gelöst. …
… und es kann auch nicht mehr gelöst werden. Wir haben hier einzig nur Interpretationen, aber keine Ursprungsquelle, die aufzeigt, dass diese Information tatsächlich von Paracelsus stammt. Nicht einmal der wissenschaftliche Mitarbeiter des Paracelsus Projekts am Medizinhistorischen Institut der Universität Bonn konnte eine Originalquelle von Paracelsus ausfindig machen.
In der heutigen Wissenschaft aber wird es als Tatsache in Büchern veröffentlicht, was natürlich fast jeder kopiert und verbreitet, der es sich auf die Fahne geschrieben hat, über die Dissoziative Identitätsstörung aufzuklären.
Genau das ist leider bezeichnend für die gesamte pseudowissenschaftliche Debatte: Es wird massenhaft kopiert, ohne dass man auch nur im Ansatz selbst forscht oder wenigstens ein klitzekleines bisschen reflektiert. Was dabei heraus kommt, ist eine falsche Historie und ein komplett falsches Bild über eine Krankheit, für die man sich mittlerweile schämen muss. Siehe dazu auch: Wissenschaft auf Irrwegen.