„Sybil“ – MPD als Kassenschlager
Kein Buch hatte einen dermaßen großen Einfluss auf die Entwicklung der dissoziativen Identitätsstörung (vormals: Multiple Personality Disorder) wie das 1973 veröffentlichte Werk „Sybil“. Verfasst von Journalistin Flora Rheta Schreiber in enger Zusammenarbeit mit Psychotherapeutin Cornelia Wilbur, gilt es als Geburtsstunde der Diagnose MPD, die kontroverser nicht sein könnte: „Ein rätselhaftes Krankheitsbild, Sex, Gewalt und Mißbrauch, verwoben in ein psychologisches Gebabbel, so hatten es sich Flora Schreiber und Cornelia Wilbur zurechtgelegt, würde ihnen Ruhm, Anerkennung und viel Geld einbringen. Die Rechnung ging auf.“ Mit diesen Worten berichtete der Spiegel im Jahr 1998 ausführlich über den „Psycho-Skandal des Jahrhunderts“ und das „hinterlistig eingefädelte Betrugsmanöver“, wie der New Yorker Psychologe Robert Rieber den Fall Sybil rückblickend bezeichnete.
Was war der Hintergrund?
Das Buch Sybil erzählt die – nach eigenen Angaben – „true story“ von Patientin Shirley Mason (alias Sybil) und ihren 16 voneinander unabhängige Persönlichkeiten: „Sybil vereinigte in sich eine ganze Fußballmannschaft, Ersatzspieler eingeschlossen“ (Der Spiegel). Diese Anteile fusionierten nach elf Jahren Therapie schlussendlich zu einer geheilten Persönlichkeit und damit war die Genesungserzählung perfekt: Orchestriert von einer ehrgeizigen Psychiaterin, ihrer willfährigen Patientin und einer phantasievollen Journalistin, die aus dieser Geschichte einen Bestseller kreierte, wurde sie nicht nur zu einem monetären Kassenschlager in Buch und Film, sondern nahm nachhaltigen Einfluss auf die Psychiatriegeschichte: „Sybil became both a pop phenomenon and a revolutionary force in the psychotherapy industry“i. Die Diagnose MPD war in aller Munde, wurde in das DSM-III aufgenommen und 1994 in Dissociative Identity Disorder umbenannt. Spezialkliniken schossen auf dem Boden, ebenso die Zahl der Patienten mit dieser neuen Diagnose – ein Business war geboren, das mit der Verbreitung der Satanic Panic (Stichwort: „Michelle Remembers“) einen neuen Höhepunkt erreichte.
Die wahre Geschichte hinter Sybil
Dr. Herbert Spiegel, Professor für Psychiatrie an der Columbia University, war in den 1960er Jahren für seine Forschungen zum Themengebiet Hypnose bekannt. Aufgrund dieser Expertise konsultierte ihn Cornelia Wilbur mit Fragestellungen zu ihrer Patientin Sybil, die zu jenem Zeitpunkt bei ihr wegen Schizophrenie in jahrelanger Behandlung war.
In einem Interview aus dem Jahr 1995 beschreibt Spiegel seine damaligen Begegnungen mit Sybil. Das, was später als multiple Persönlichkeitsstörung entdeckt wurde, war das Nebenprodukt von Hypnose, so der Universitätsprofessor. Dazu kam, dass Sybil eigenen Angaben zufolge das Buch „The three faces of Eve“ gelesen hatte, dessen Lekture ihr in Folge die Möglichkeit bot, „Qualen und Lebensstress durch die histrionische Darstellung multipler Persönlichkeiten auszudrücken, vor allem, wenn sie vom Therapeuten dazu ermutigt wurde“ (ebd.). Und das wurde sie in der Tat, wie Herbert Spiegel anschaulich über seine Konsultationen mit Sybil erzählt:
“Well, do you want me to be Helen?” And I said, “What do you mean?” And she said, “Well, when I’m with Dr. Wilbur she wants me to be Helen.” I said, “Who’s Helen?” “Well, that’s a name Dr. Wilbur gave me for this feeling.” So I said, “Well, if you want to it’s all right, but it’s not necessary.” With me, Sybil preferred not to “be Helen.” With Wilbur, it seemed she felt an obligation to become another personality. That’s when I realized that Connie was helping her identify aspects of her life, or perspectives, that she then called by name. By naming them this way, she was reifying a memory of some kind and converting it into a “personality.”ii
https://www.nybooks.com/articles/1997/04/24/sybil-the-making-of-a-disease/?lp_txn_id=1537568
Das heißt also, die Namensgebung für die in Summe 16 anderen Persönlichkeiten wurde von Therapeutin Wilbur forciert und die eigenen Hypothesen iatrogen auf die Patientin übertragen. Spiegels Fazit über Sybil:„I think she was a wonderful hysterical patient with role confusion, which is typical of high hysterics. It was hysteria.“iii
Aufgrund dieser Differenzen über die Diagnose verwehrte sich Herbert Spiegel auch einer Co-Autorenschaft an dem Buch u.a. mit dem Argument, dass es nicht korrekt wäre, Sybil eine multiple Persönlichkeit zu nennen. Doch was dann kam, war pure Marketingmaschinierie: „Wenn wir es nicht multiple Persönlichkeit nennen, haben wir kein Buch!“, zitiert er einen Ausspruch von Journalistin Flora Schreiber. In Folge zog sich Spiegel zurück und die „Folie à trois“ bestehend aus Schreiber-Wilbur-Mason ihre Sache durch.
Psychologische Betrachtungen
Aus psychologischer Sicht stellt sich bei einer derartigen Diagnostik von MPD vor allem folgendes Problem : Werden hoch suggestible Personen in Hypnose versetzt, reagieren sie mitunter so, dass sie die behandelnden Therapeuten zufriedenstellen wollen, insbesondere wenn ein gutes Verhältnis zwischen ihnen besteht, beschreibt Spiegel diese Kollusionen zwischen Patienten und Therapeuten. Letztere nennt er unbewusste Trickbetrüger: „They are taking highly malleable, suggestible persons and molding them into acting out a thesis that they are putting upon them.“iv Und genau darum ist das MPD-Phänomen von Sybil für ihn ein von Cornelia Wilbur geschaffenes Artefakt, das über die Jahrzehnte zur Viktimisierung zahlreicher Patienten aufgrund von einer Fehldiagnostik führte.
Debunking Sybil
Es sollte über 35 Jahre ab Erstveröffentlichung des Buches dauern, bis Journalistin Debbie Nathan in ihrem Werk „Sybil Exposed“ die Geschichte von Patientin Shirley Mason im Detail neu aufrollte. Doch das Big Business, das hinter der neu geschaffenen Diagnose MPD stand, hatte sich längst weltweit ausgebreitet. Auch im deutschsprachigen Raum wurde Sybil zu einem vielbeachteten Werk, so schrieb Bettina Overkamp in ihrer Dissertation über die Differenzialdiagnostik bei DIS im Jahr 2005: „Die ersten TherapeutInnen, die sich mit der dissoziativen Identitätsstörung beschäftigten, waren PsychoanalytikerInnen. Eine bedeutende Rolle spielte dabei Cornelia Wilbur, die Therapeutin von „Sybil“ (Schreiber, 1973/1992). Die psychoanalytische Perspektive bildet auch heute noch die Grundlage für die Betrachtungsweise der dissoziativen Identitätsstörung.“ (S. 56 ebd.)
Auch Ursula Gast bezieht sich noch Jahre nach erfolgtem Debunking von Sybil in einer Fachpublikation auf Wilbur: „Sybil gilt als erste populäre Falldarstellung der neueren Zeit. (…) Die Darstellung kann bis heute als anschauliche Lektüre zum Verständnis des Krankheitserlebens von betroffenen Patienten angesehen werden.“ Zwar geht sie kurz auf die „Vermutung eines Fakes“ ein, relativiert jedoch die Angaben der Patientin, dies alles nur gespielt zu haben, mit folgenden Worten: „Solche Behauptungen kommen allerdings auch bei validen Diagnosen vor, zumal Patienten der Diagnose oft hoch ambivalent gegenüberstehen können.“ (Ursula Gast, Pascal Wabnitz: Dissoziative Störungen erkennen und behandeln, Erstauflage 2014)
Umbenennungen und Spurenverwischung
Dass die Story rund um Sybil bis ins Jahr 2024 nicht komplett aufgearbeitet ist, zeigt ein aktueller Blick auf die Webseite der International Society for the Study of Trauma and Dissociation. Die ISSTD vergibt bis zum heutigen Tag einen „Cornelia B. Wilbur Award“ als Preis für eine hervorragende klinische Arbeit im Rahmen von dissoziativen Störungen. Von kritischer Reflexion oder einer Distanzierung zu Wilburs Arbeit ist auch nach jahrzehntelangem Debunking keine Spur zu finden.
Auch wenn die offizielle Umbenennung von multipler Persönlichkeitsstörung in Dissoziative Identitätsstörung im DSM-IV nun genau 30 Jahre her ist, beinhaltet der neue Name nicht automatisch eine Loslösung von der Vergangenheit. So schrieb der Spiegel bereits im Jahr 1998 mit aus heutiger Sicht zeitlos anmutenden Worten: „Gleichzeitig bemühen sich die eingeschworenen MPS-Anhänger, unrühmliche Spuren zu verwischen. Die dabei gewählte Taktik hat sich schon öfter bewährt: Die mit vergangenen Skandalen belasteten Begriffe verschwinden aus Lehrbüchern und Veranstaltungstiteln und werden durch neue Namen ersetzt.“
Doch allen neuen Namen zum Trotz – und besser könnte man es in diesem Zusammenhang wohl kaum ausdrücken: „They changed the label to „Dissociative Identity Disorder,“ but a skunk by any other name is still a skunk.“v
ÜBERSETZUNG DER ENGLISCHEN ZITATE:
i „Sybil wurde sowohl zu einem Pop-Phänomen als auch zu einer revolutionären Kraft in der Psychotherapie-Branche„.
ii „Nun, willst du, dass ich Helen bin?“ Und ich sagte: „Was meinst du?“ Und sie sagte: „Nun, wenn ich bei Dr. Wilbur bin, will sie, dass ich Helen bin.“ Ich fragte: „Wer ist Helen?“ „Nun, das ist ein Name, den Dr. Wilbur mir für dieses Gefühl gegeben hat.“ Also sagte ich: „Nun, wenn du es willst, ist es in Ordnung, aber es ist nicht notwendig.“ Bei mir zog Sybil es vor, nicht „Helen“ zu sein. Bei Wilbur schien sie sich verpflichtet zu fühlen, eine andere Persönlichkeit zu werden. Da wurde mir klar, dass Connie ihr half, Aspekte ihres Lebens oder Perspektiven zu identifizieren, die sie dann beim Namen nannte. Indem sie sie auf diese Weise benannte, verdinglichte sie eine Art von Erinnerung und verwandelte sie in eine „Persönlichkeit“.
iii „Ich denke, sie war eine wunderbare hysterische Patientin mit einer Rollenverwirrung, die typisch für Hochhysteriker ist. Es war Hysterie.“
iv „Sie nehmen hochgradig formbare, beeinflussbare Personen und formen sie so, dass sie eine These umsetzen, die sie ihnen aufzwingen.“
v „Sie änderten das Etikett in „Dissoziative Identitätsstörung“, aber ein Stinktier unter jedem anderen Namen ist immer noch ein Stinktier.“