ROGD – eine problematische Hypothese

ROGD – eine problematische Hypothese

„Plötzlich einsetzende Geschlechtsdysphorie“, wie sich der Begriff ROGD (rapid onset gender dysphoria) ins Deutsche übersetzen lässt, ist das „Eingemachte“ des Kulturkampfs zum Thema trans, der polarisiert, spaltet und vor allem eines tut: nämlich auf Kosten von Kindern und Jugendlichen ausgetragen wird.

ROGD wurde von keinem psychologischen Verband oder Diagnosemanual als valider Diagnostikbegriff anerkannt. Im Gegenteil, Fachverbände und peer reviewed-Journals raten dezidiert von der Verwendung des Begriffes ab, da dieser wissenschaftlich nicht beweisbar ist – was u.a. eine 2022 durchgeführte klinische Studie belegt. Zudem weist die Hypothese von RODG eklatante methodische Mängel auf (dazu weiter unten im Text).

Hypothesengenerierung mittels Anonym-Befragung

Die Hypothese von rapid onset gender dysphoria geht ursprünglich auf eine Untersuchung von Lisa Littman aus dem Jahr 2018 zurück, die in einer deskriptiven Studie mittels anonym auszufüllendem, 90 Items umfassenden Online-Fragebogen ihre Ergebnisse erhob. Dazu wurden die Einladungslinks dieser Befragung auf vier einschlägigen Webseiten und Foren platziert, wo sich Eltern über das Thema trans austauschten. Drei der vier Seiten waren jedoch alles andere als neutrale Anlaufstellen, so trug eine Webseiten den Titel „Transgendertrend“ und verstand sich als Austauschgruppe für Eltern, die besorgt über den „Trend“ der trans-Diagnose für Kinder waren („are concerned about the current trend to diagnose ‚gender non-conforming‘ children as transgender“). Eine andere Seite verstand sich expressis verbis als „safe place for gender-skeptical parents and their allies“. Mit dem Fragebogen sollten demgemäß vornehmlich Eltern erreicht werden, die sich auf thematisch kritischen Websites und Online-Gruppen tummelten. In Folge wurden auch die Moderatoren der Webseiten gezielt dazu angehalten, die Einladung zur Studienteilnahme im Schneeballeffekt weiter zu teilen – ein Vorgehen, dessen Bias nicht offenkundiger sein könnte.

Die 256 Fragebögen dieser anonymen Eltern-Befragung brachten folgende Ergebnisse: 82,8 % der trans Jugendlichen, deren Eltern an der Studie teilnahmen, waren weiblich geboren, zum Zeitpunkt der Datenerhebung durchschnittlich 16,4 Jahre alt und hatten zu über 62,5 % im Vorfeld die Diagnose einer psychischen Störung oder neurologische Entwicklungsstörung erhalten. Auch die Zusammensetzung der Peer-Groups wurde abgefragt: Bei 36,8 % der Jugendlichen identifizierte sich die Mehrheit des Freundeskreises ebenfalls als trans.

Aus diesen Ergebnissen leitete Littman die Hypothese von trans als soziale Ansteckung durch Peer-Gruppen-Phänomen („cluster outbreaks„) und Social Media ab und gab dieser (in Anlehnung an der etablierten Begriff der Geschlechtsdysphorie) den Namen: ROGD – rapid onset gender dysphoria. Dazu mutmaßt sie, dass die Identifizierung als trans eine Bewältigungsstrategie sein könnte, um mit anderen psychischen Problemen oder negativen Emotionen umzugehen und zieht Vergleiche mit der sozialen Ansteckung bei Anorexie und selbstverletzendem Verhalten (siehe hierzu auch folgenden Artikel: Link).

Biased Resultate – und die berechtigte Kritik daran

Die ROGD-Hypothese hat jedoch mehr als nur einen Haken. Um mit dem Offensichtlichsten anzufangen: Es wurden so ziemlich alle befragt (Stichwort: anonyme Onlineerhebung) außer diejenigen, die es wirklich angeht – nämlich die betroffenen Jugendlichen selbst. Dies steht nicht nur der Aussagekraft der Studie entgegen, sondern widerspricht auch sämtlichen Grundsätzen einer partizipativen Forschung nach dem Motto: „Nichts über uns ohne uns“.

Aktivistin Julia Serano fasst die Kritikpunkte an der Studie zusammen: Erstens ist die Studien-Plattform PlosOne, auf der Littman publizierte, durchaus mit Vorsicht zu genießen, zweitens ist aufgrund einer Korrelation zweier Faktoren (Geschlechtsinkongruenz des Teenagers und dazu viele trans Jugendliche im Freundeskreis) nicht auf eine etwaige Kausaliät zu schließen, in dem Sinne, dass ein Faktor den anderen ursächlich bedingt. Und drittens widerlegt Serano in ihrem Text das Argument der sozialen Ansteckung und führt den Vergleich mit der Entwicklung von Linkshändigkeit im 20. Jahrhundert an: Diese ist eklatant angestiegen, nachdem Linkshänder zu sein nicht mehr sozial stigmatisiert wurde und Menschen ihre natürliche Veranlagung nicht länger unterdrücken mussten.

Es ist davon auszugehen, dass sich Studienautorin Littman, die eine Professur an der renommierten Brown University, Rhode Island, innehat, der Problemfelder in der Aussagengenerierung und der eindeutigen Bias bzw. Voreingenommenheit der befragten Personen bewusst sein musste – und in Folge auch des sozialwissenschaftlich problematischen Untersuchungsdesigns.

Methodendesign, das bekannt vorkommt …

Apropos Forschungsdesign: Lisa Littman schreibt gegen Ende der Studie über die Limitationen ihrer Forschung, deren Aufschlüsselung (nicht nur) in der Sozialwissenschaft zu den Gepflogenheiten zählt:

„Zu den Einschränkungen dieser Studie gehört, dass es sich um eine deskriptive Studie handelt und somit die bekannten Einschränkungen aller deskriptiven Studien bestehen. Es handelt sich nicht um eine Prävalenzstudie und es wurde nicht versucht, die Prävalenz von Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu bewerten, die keine Symptome in der Kindheit gezeigt hatten. Ebenso konnten die Ergebnisse dieser Studie nicht aufzeigen, inwieweit das Auftreten von Symptomen der Geschlechtsdysphorie sozial vermittelt oder mit einem maladaptiven Bewältigungsmechanismus verbunden sein könnte, obwohl diese Hypothesen hier diskutiert wurden. Das Sammeln weiterer Daten zu den vorgestellten Themen ist eine wichtige Empfehlung für weitere Studien.“

https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6095578/, Littman-Studie aus 2018; übersetzt ins Deutsche

Zynische Leser könnten diese Darstellung der Limitationen auch mit einem Webseiten-Disclaimer vergleichen, wo die vertretenen Meinungen lediglich die des Eigentümers darstellt. Zumindest aber sind Littmans Limitationen ein dickes, fettes Cave im Umgang mit der Hypothese – das jedoch bewusst (?) vom Mainstream ignoriert wird, der ihre Aussagen unhinterfragt und dankbar repliziert.

Warum kommt diese Darstellung gerade so verdammt bekannt vor? Richtig … es erinnert an die Vertreter der Rituelle-Gewalt-Mind-Control-These, die nach ähnlichem Muster zu arbeiten scheinen: Hier wie da existiert jeweils eine anonym auszufüllende Online-Befragung, die gezielt auf Plattformen verbreitet wird, auf denen sich (nur) User bewegen, die eine ganz bestimmte Positionierung zu einem Thema haben. Und da wie dort werden die Ergebnisse 1:1 als angebliche „Beweise“ für bestimmte Sichtweisen zigfach repliziert, obwohl sie eines nicht schaffen: nämlich Fakten.

So führen Nick, Schröder et. al (siehe hierzu u.a.: https://dissoziationen.de/news/wenn-wahrheit-nebensache-ist/) in ihrer Studie über rituelle Gewalt zum Thema Limitationen folgendes an:

„Bei der Interpretation der Ergebnisse dieser Studie soll hervorgehoben werden, dass das Auswahlverfahren der „anfallenden Stichprobe“ keine speziellen Auswahlkriterien anlegt und somit weder besonders informationshaltige Fälle gewinnt, noch Fälle, die Repräsentativität für die Grundgesamtheit beanspruchen könnten. (…)“

https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/html/10.1055/a-1123-3064

Die Aussage ist also – überspitzt formuliert -, dass man in Wahrheit nichts aussagen kann. Doch dann ist es bereits zu spät – denn wer liest schon das Kleingedruckte im „Beipackzettel zu Risiken und Nebenwirkungen“, wenn es um Studien geht, die sich perfekt als Social Media-Appetithäppchen und mediale Munition eignen, um die eigenen Ansichten „perfekt“ zu untermauern?

Quod erat demonstrandum. Oder eben nicht, denn um Beweise ging es nicht – in beiden Fällen sind es rein deskriptive (!) Daten, die etwas „belegen“ sollen. Oder könnte es sein, dass da wie dort (bewusst) eine Hypothese in der Hoffnung in den Raum gesetzt wurde, dass ein paar Phrasen davon beim Leser hängenbleiben? Und in der Annahme, dass möglichst niemand kritisch (hinter)fragt: Im Fall der Satanic Panic, dass fast die Hälfte der Befragten Satanismus als Täterzugehörigkeit für rituelle Gewalt angab – im Fall von ROGD, dass trans als Jugenddtrend auf sozialer Ansteckung basiere.

Einmal in die Welt gesetzt, lässt sich weder die eine noch die andere Aussage mehr stoppen. Und voilà – die Zutaten einer Moralpanik sind bereit.

Dass es im Nachgang von Littman eine Correction Notice mit Klarstellungen gibt bzw. eine ähnliche Studie von Diaz/Bailey im Juni 2023 zurückgezogen wurde (wie im Falle der ROGD-Hypothese) oder dass ein Studienautor öffentlich zurückrudert, und sagt, man habe „keine Fakten präsentieren“ wollen (wie bei rituelle Gewalt-Mind Control geschehen) – wird zu oft geflissentlich überhört. Einmal in aller Munde ist eine Hypothese wie ROGD trotz Klarstellung nur schwer zu relativieren.

Irreversibler Schaden

Die Sichtweise von trans als „Trend“ und soziale Ansteckung hat sich in den Köpfen von Eltern, Radikalfeminst:innen (und teilweise auch anerkannten Skeptikern) eingebrannt. Dass dies heftige Konsequenzen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen haben kann, zeigt Julia Serrano auf:

Es [die Hypothese; Anm.] bietet widerstrebenden Eltern einen Vorwand, die Geschlechtsidentität ihres Kindes nicht zu glauben und abzulehnen, unter der Annahme, dass es sich lediglich um ein Nebenprodukt von ROGD handelt. Es liefert auch eine Begründung dafür, die Interaktionen ihres Kindes mit Transgender-Kollegen und den Zugang zu Transgender-Informationen einzuschränken, da solche Dinge die angebliche Ursache der Erkrankung sind.“

https://juliaserano.medium.com/everything-you-need-to-know-about-rapid-onset-gender-dysphoria-1940b8afdeba, übersetzt ins Deutsche

Der Schaden in der öffentlichen Wahrnehmung ist also angerichtet und fast scheint es, als sei er irreversibel. Ja, dies erinnert an den gleichlautenden Buchtitel von Abigail Shrier „Irreversible Damage“ – bloß, dass es eben genau umgekehrt ist, als die Autorin Shrier es festzumachen glaubt. Mehr dazu in einem Folgeartikel.

UPDATE JULI 2024:

Gerade ist ein neuer Fachartikel zu diesem Thema erschienen, der sich mit der Hypothese von Littman befasst und versucht, die beiden sehr konträren Sichtweisen übersichtlich darzustellen. Es wird u.a. folgende Überlegung angestellt, die über das Feld von ROGD hinausgeht: „Do preexisting psychiatric conditions act as a catalyst for gender dysphoria or are they rather the consequence of a preexisting, yet unidentified, gender dysphoria?“ (ebd. S. 4). Hier sind wir beim bekannten „Chicken or egg“-Problem angelangt, das die Fragestellung beinhaltet, was zuerst da war, das Huhn oder das Ei. Der vorliegende Fachartikel zitiert aktuelle Studien zu diesen Überlegungen. Danach werden – unter Vorbehalt wegen der zu geringen Datenmenge – die Befragungsergebnisse von de-trans Personen (detransitioners) über prä-existierende psychische Erkrankungen erwähnt bevor der Artikel auch auf das Peer-Gruppen basierte Konzept der sozialen Ansteckung hinweist und das Beispiel von Essstörungen bringt.

Als Fazit fordern die Autor:innen des Fachartikels eine breitere Forschung, um Littmans These zu untermauern oder zu widerlegen: „In summary, it becomes clear that neither prematurely adopting ROGD as a valid explanatory model nor its hasty condemnation as transphobic is an appropriate response. It is hard to deny that Littman’s research has made an important contribution to the discourse. It is now the task of the scientific community to take up this contribution and build on it with further research.“ (ebd. S. 6f.)

Weiterführende Links:

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