Pro Ana – die Gefahr von Instagram & TikTok

Pro Ana – die Gefahr von Instagram & TikTok

Nach dem langsamen „Untergang“ der Webforen galt eine Zeit lang die Plattform tumblr als „go-to place“ für die Pro Ana Community. Es gab eine große Anzahl an einschlägigen Pro Ana Seiten, die als öffentliche Tagebücher die innere Welt der Essstörungs-Betroffenen drastisch offenlegten – solange bis tumblr seine Nutzungsbedingungen anpasste und jeglichen Content verbot, der Essstörungen oder Selbstverletzung propagierte. In einem Statement der Plattform aus dem Jahr 2012 wurde festgehalten, dass anstatt von Hashtags wie #proana und vielen anderen in Zukunft Public Service Announcements (PSAs) gezeigt würden. Daneben legte tumblr eine rote Linie fest, dass es eben nicht darum ging, Onlinediskussionen über die Thematik zu verbieten, sondern lediglich verharmlosende und Anorexie-fördernden Blogs verboten werden sollten: „Don’t post content that actively promotes or glorifies self-injury or self-harm. This includes content that urges or encourages readers to cut or mutilate themselves; embrace anorexia, bulimia, or other eating disorders; or commit suicide rather than, e.g., seek counseling or treatment for depression or other disorders. Online dialogue about these acts and conditions is incredibly important; this prohibition is intended to reach only those blogs that cross the line into active promotion or glorification.“

Auch der Dienst Pinterest folgte kurze Zeit später mit ebenfalls aktualisierten Nutzungsbedingungen.

Diese inhaltlichen Sperrungen von Anbieterseite sorgten u.a. dafür, dass sich die Szene rasch auf die zu jener Zeit ohnehin boomende Plattform Instagram verlagerte, die als bildbasiertes Medium für Jahre das „Eldorado“ im negativen Sinne für die Verherrlichung von Essstörungen werden sollte. Die Huffington Post berichtete im März 2012 über erschreckende Zahlen: Über 30.000 Fotos der Plattform Instagram waren mit dem Hashtag „Thinspo“ versehen und 13.000 mit dem Hashtag „ana„. Dazu kam unzähliger Content über Selbstverletzungen, der teilweise frische Schnittverletzungen und Narben zeigte.

Das Unternehmen versuchte seit Beginn die Pro Ana Szene einzudämmen und sperrte immer mehr Hashtags, wie u.a. die beiden oben genannten. Ein Problem war jedoch, dass innerhalb der Community neue Hashtags kreiert wurden, die sich durch geringfügige und bewusste Schreibunterschiede von den Originalen unterschieden. Bis diese ebenfalls vom technischen Such-Filter erfasst werden konnten, dauerte es zumeist.

Zudem waren und sind viele der einschlägigen Accounts von Anhängerinnen der Pro Ana-Szene im Modus „privat“ geführt, dh. der Content wird nur nach bestätigter Follow-Anfrage sichtbar. Viele Accounts haben zudem Phrasen wie „don’t report, just block“ in der Selbstbeschreibung bzw. die Info über einen Backupaccount, falls der Hauptaccount plötzlich gesperrt würde.

Medienberichte aus 2019 wiesen auf die unveränderte Epidemie an einschlägigen Inhalten auf der Plattform hin. Zwei Jahre später, im Jahr 2021, berichtete die BBC über den gefährlichen Algorithmus, welcher aufgrund der Suchanfragen und Interaktionen immer weiteren Content vorschlug, der für bereits Essstörungs-Gefährdete immer neue destruktive Trigger darstellte. Dies galt ebenso für automatisch vorgeschlagene Profile, welche sich ebenfalls in der Szene bewegten – und zwar auch solche, die eigentlich aufgrund der bisherigen Followerzahlen nur eine geringe Reichweite hatten, aber dennoch vom Algorithmus breit gestreut wurden. Dies resultierte sogar in einer Entschuldigung seitens Instagram dafür, dass „weight loss“-Content Usern angeboten wurde, die bereits an einer Esssstörung litten.

Ein weiteres Problem stellen sogenannte Recovery-Accounts dar. Diese sind nach den Nutzungsbedingungen von Instagram erlaubt und enthalten teilweise Disclaimer, dass sie eben nicht Pro Ana supporten würden. In Teilen mag dies durchaus der Fall sein, jedoch laufen auch solche Accounts Gefahr, ein verzerrtes Bild über die Genesung nach einer Essstörung zu vermitteln. Zumeist werden dort – neben abgemagerten Aufnahmen aus der Extremzeit der eigenen Anorexie – täglich besonders schön dekorierte Mahlzeiten abfotografiert, vornehmlich von Süßspeisen. Dazu gibt es Bilder von Sporteinheiten, um nach dem extremen Abnehmen Muskeln aufzubauen.

In Folge bilden sich eigene Bubbles an Usern, wo man „dazugehören“ möchte. Auf den ersten Blick wirkt dies durchaus gesund und förderlich, jedoch täuscht es leider nur zu oft über den steinigen Weg eines echten Genesungsprozesses nach einer schweren Anorexie hinweg. Es reicht eben nicht, „einfach mal mehr zu essen“, wie es oft von Recovery Accounts vermitteln wird. Damit können zwar durchaus lebenswichtige Kilos zugenommen werden, aber die Ursachen und Wurzeln einer Essstörung lassen sich nicht alleine durch Zunehmen lösen, sondern bedürfen einer oft langwierigen professionellen Hilfe bzw. Therapie. Zudem werden von diesen Accounts sehr oft Light Produkte angepriesen, wie solche einer großen deutschen Firma, die zuckerfreie Nahrungsmittel auf Basis von u.a. dem Zuckeraustauschstoff Sucralose anbietet. Diese zuckerfreien High Protein-Produkte werden nicht nur zum Abnehmen benutzt, sondern auch unter Esssgestörten als Möglichkeit gesehen, sich Süßspeisen „gönnen“ zu können. Dass dabei jedoch kein gesundes Esssverhalten trainiert wird, sondern dieses weiterhin auf Restriktionen basiert, fällt komplett unter den Tisch, wenn derartige Light Produkte in großem Stil von Instagram-Influencern mit Rabattcodes und ähnlicher Promotion beworben werden.

Instagram im Jahr 2024

Was sind die aktuellen Bemühungen von Instagram, um der Ausbreitung von Pro Ana-Material Einhalt zu gebieten? In den aktuellen Community-Richtlinien auf den Hilfeseiten der Plattform heißt es dazu: „Die Instagram-Community ist ein Ort der Rücksichtnahme, an dem Personen mit schwerwiegenden Problemen wie Essstörungen oder der Neigung zum Ritzen oder anderen Formen der Selbstverletzung oft miteinander in Kontakt treten, um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen oder Unterstützung zu erhalten. Wir versuchen, unseren Teil dazu beizutragen, indem wir in der App und im Hilfebereich nützliche Informationen bereitstellen, damit die Menschen die notwendige Hilfe erhalten können. Die Ermutigung oder das Drängen anderer zu Selbstverletzung verstößt gegen die Grundsätze einer fürsorglichen Umgebung. Deshalb entfernen wir entsprechende Inhalte oder deaktivieren zugehörige Konten, wenn wir entsprechende Meldungen erhalten.“

Daneben wird auf die Richtlinien des Meta Konzerns für Facebook hingewiesen, welche das Thema Selbstverletzung und Essstörung betreffen: „Wir gestatten nicht, dass Suizid, Selbstverletzung oder Essstörungen absichtlich oder unabsichtlich verherrlicht oder gefördert werden. Wir lassen jedoch zu, dass Nutzer Diskussionen zu diesen Themen führen, denn wir möchten, dass Facebook ein Ort ist, an dem die Menschen ihre Erfahrungen teilen, für solche Themen sensibilisieren und sich gegenseitig unterstützen können. (…)“

Doch diese Selbstregulierung auf Anbieterseite für potenziell gefährliche Pro Ana-Inhalte funktioniert nur teilweise. Wie bereits dargelegt, erscheint bei Sucheingabe von gewissen Hashtags (wie dem absolut gesperrten Suchbegriff „pro ana„) zwar eine Infoseite mit den Worten „Du kannst Hilfe erhalten“ sowie Verweise auf eine länderspezifische Helpline wie „Rat auf Draht“ bzw. der Telefonseelsorge oder dem Tipp, Freunde anzurufen. Doch dies ist nur ein Mosaiksteinchen im Kampf gegen die Online Pro Ana-Szene. Denn bei Abfrage von anderen einschlägigen Hashtags – die an dieser Stelle bewusst namentlich nicht genannt werden – folgt neben dem Hinweis auf die Hilfsmöglichkeiten unter dem Disclaimer „Words you’re searching for are often associated with sensitive content“ auch die Option „continue to search results“. Danach ist ein Abrufen des Suchergebnisses trotzdem möglich.

Neben Instagram macht jüngst insbesondere ein Medium mit Schlagzeilen rund um die Verherrlichung von Essstörungen auf sich aufmerksam: TikTok.

Die Problematik auf TikTok

Es scheint, als sei die Pro Ana Szene gegenwärtig erneut in Teilen weitergezogen – und zwar diesmal auf die Kurzvideo-Plattform TikTok, die gerade unter Jugendlichen extrem populär ist. Als Nachfolgerin der beliebten App musical.ly ist sie seit Gründung 2017 die am schnellst wachsende App weltweit – ca. zwei Drittel aller amerikanischen Teenager nutzt diesen Dienst der chinesischen Firma ByteDance.

TikTok steht mittlerweile international unter Kritik, nicht nur wegen jugendschutzrechtlicher Bedenken, sondern auch wegen Problemen mit dem Datenschutz bzw. Spionage und Zensur zugunsten der Regierung Chinas. Bezogen auf die Verherrlichung von Essstörungen hat die Plattform dieselbe Problematik wie Instagram: Erneut werden Hashtags dazu benutzt, um Pro Ana-Material zu verbreiten, wobei der Plattform-innewohnende Algorithmus bei der Distribution hilft, da er Usern ähnliche Videos vorschlägt wie solche, mit denen sie bereits interagiert haben.

Nach einer Medienrecherche rund um das Jahr 2020 sperrte TikTok sechs Pro Ana-Accounts und einige in der Szene sehr beliebte Hashtags. Ein Sprecher des Unternehmens wird dabei folgendermaßen zitiert: „As content changes, we continue to work with expert partners, update our technology and review our processes to ensure we can respond to emerging and new harmful activities.“ Dass dies jedoch einem Kampf gegen Windmühlen gleicht, zeigt – wie bereits berichtet – erneut die Tendenz der User, Hashtags in anderer Schreibweise oder in der Szene bekannte Codebegriffe zu verwenden bzw. einschlägige Formulierungen lediglich in den Fließtext zu stellen. Auch die durchaus vorhandenen Bemühungen seitens TikTok, die Plattform als inklusiv darzustellen und für Body-Positivity einzutreten, wie eine Presseaussendung aus dem Jahr 2020 darlegt, ändern in der Praxis nur wenig.

Das CCDH (Center for Countering Digital Hate) veröffentlichte 2022 einen sehr kritischen Bericht gegenüber TikTok, wo klar festgehalten wurde, dass die Gefahr für Kinder und Jugendliche unverändert besteht. Für die Studie des CCDH wurden zu Testzwecken neue Accounts in verschiedenen Ländern (USA, UK, Kanada und Australien) geschaffen und zwar unter Angabe des Minimum-Alters von 13 Jahren, welches die Plattform zur Benutzung ihrer Dienste erlaubt. Die Ergebnisse sind erschreckend: „These accounts paused briefly on videos about body image and mental health, and liked them. What we found was deeply disturbing. Within 2.6 minutes, TikTok recommended suicide content. Within 8 minutes, TikTok served content related to eating disorders.“ Die Forschergruppe kreierte daneben auch weitere Accounts, die bewusst die Formulierung „loseweight“ enthielten, um Mitglieder einer vulnerablen Teenangergruppe zu simulieren. Exakt diesen Accounts wurden vom Algorithmus der Plattform TikTok drei Mal mehr für sie gefährliche Videos vorgeschlagen und sogar zwölf Mal mehr Videos zum Thema Selbstverletzungen (vgl. Studie, S. 7).

Nach zusammenfassenden Angaben dieses Berichts hat Content zu Essstörungen rund 13 Milliarden Views, alleine 56 problematische Hashtags konnten identifiziert werden, unter welchen diese Inhalte verbreitet wurden (vgl. Studie, S. 37). Hierbei kritisierte das Forschungsteam insbesondere den personalisierten „Für dich“-Feed, der – aufgrund des bereits angesprochenen Algorithmus – Videos basierend auf dem Klickverhalten, der Interaktionszeit und den (vermeintlichen) Interessen des Users vorschlägt.

Eine Studie der Cornell Universität aus dem 2022 liefert ähnlich deutliche Ergebnisse: Hierfür wurde Content in Form von Postings und Kommentaren untersucht, die in der Pro Ana Szene als „Thinspiration“ beschrieben ist. Anhand einer quantitativen Auswertung wird deutlich, dass damit ein äußerst ungesundes und unrealistisches Körperbild transportiert wird, was Essstörungen deutlich fördert und forciert – bei entsprechender Prädisposition noch mehr.

Die neuseeländische Fachzeitschrift „Journal of Health“ berichtet 2023 über einen regelrechten Negativ-Wettbewerb auf TikTok: „Many users of the app have stated that people are more or less competing with one another in an attempt to prove they are in the worst condition, or that they are the most resilient.“ Daneben wird auch der aktuelle Trend zu mehr Body Positivity kritisch gesehen, da auch dies zu einer ungesunden Fokussierung auf den Körper führen kann.

Betrachtet man diese Zahlen, Studien und die immer noch herrschende Vorgehensweise des Algorithmus, erscheinen sämtliche Versuche des Unternehmens für Body-Positivity einzustehen wie Augenauswischerei bzw. psychosoziales Greenwashing. Auch die kurze Darstellung zu Essstörungen auf der Unternehmenswebseite wirkt eher verkürzt und geht nicht auf die Gefahren ein, die speziell auf TikTok für vulnerable Gruppen bestehen.

Etwas Positives ist dennoch festzustellen: Der deutsche Jugendschutzbericht aus dem Jahr 2020 zu Selbstgefährdung im Netz, der über die Gefahren von Suizid- und Selbstverletzungsverherrlichung sowie Pro Ana berichtet, vermerkt eine Löschquote von 97% bei TikTok: Damit liegt die Plattform deutlich vor den anderen populären sozialen Medien des Meta Konzerns wie Facebook, was die Reaktion auf gemeldete Beiträge bzw. deren schlussendliche Entfernung betrifft.

Dennoch darf der Aspekt der schnelleren Reaktionszeit des Unternehmens auf problematische Postings nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade TikTok unter Teenagern immer neue gefährliche Challenges liefert – wie z.B. jene nach hervorstehenden Schlüsselbeinen, auf denen für ein Foto Münzen gestapelt werden (der dazugehörende Hashtag wird an dieser Stelle bewusst nicht genannt), die schnell viral gehen. Zudem ist eine ex post-Entfernung von Problem-Postings immer einen Schritt hinterher, was proaktiven Jugendschutz angeht.

Für die Zukunft wäre ein verbesserter Algorithmus das Ziel bzw. dass ev. unter Einsatz von künstlicher Intelligenz schneller auf Beiträge reagiert werden kann, wenn diese essstörungsverharmlosende Inhalte aufweisen. Bis dahin bleiben TikTok & Co. eine Gefahr für vulnerable junge Menschen und werden für diese Gruppe leider weiterhin dazu beitragen, Essstörungen aufrecht zu erhalten, anstatt sich zeitnah professionelle Hilfe zu holen.

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