WhatsApp-Gefahr: Pro Ana-Gruppen & Coaches
Ein Kennzeichen der Pro Ana-Bewegung war von Anfang an deren Verheimlichung und der Wunsch, „unter sich“ zu sein. Dieser angestrebten Exklusivität kommen geschlossene WhatsApp Gruppen entgegen, die vor allem eines sind: einer der gefährlichsten Tummelplätze für essgestörte Menschen. Diese Gruppen unterliegen keinerlei Kontrollmöglichkeiten des Jugendschutzes, es gibt keine Chance, sie z.B. auf den Index zu setzen, wie es bei Webseiten, die Essstörungen verherrlichen, der Fall sein kann (Siehe den Beitrag zum Thema Jugendschutz).
Auch wenn es – zum Glück – im Laufe der letzten Jahre etwas schwieriger geworden ist, derartige Gruppen zu finden, bleiben diese neben den sozialen Medien wie TikTok (wir haben berichtet) eine Gefahr für Leib und Leben – im wörtlichen Sinne. Immer noch (wenn auch in weitaus geringerer Anzahl) finden sich auch auf diversen Pro Ana-Suchbörsen Links zu „Vorgruppen“ bzw. anonymen Kontaktmöglichkeiten via Emailadressen oder Kik-Chat. Letzterer scheint besonders beliebt zu sein, da er eine Video Funktion beinhaltet, um Fake Checks zu machen, denn insbesondere gegen Fakes wollen sich derartige Gruppen absichern bzw. gegen Männer mit pädophilen Neigungen (dazu unten mehr).
Als Mitglied einer derartigen Pro Ana-Gruppe muss ein Steckbrief ausgefüllt werden: HG, TG, WG, CW und so weiter. Die Abkürzungen sind als Codes in der Szene gut bekannt und stehen für Höchstgewicht, Tiefstgewicht, Wunschgewicht, Current Weight, also gegenwärtiges Gewicht. Auch die Regeln sind in vielen Gruppen ähnlich: Manche geben ein Mindestalter für den Beitritt an (manchmal 14, 15 Jahre, teilweise 18) sowie einen bestimmten Mindest- oder Höchst-BMI. Gefordert werden zudem eine aktive Teilnahme am Gruppenleben sowie oft das Posten von Wiegebildern, das heißt, die abfotografierte Waage, die ohnehin jeder von Essstörungen betroffener Mensch daheim hat, und/oder Ganzkörperbilder. Auch das tägliche Verschicken von Screenshots von Abnehm-Apps, auf denen man die täglichen Kalorien protokollieren kann sowie gemeinsame Fasttage bzw. generelle Kalorienlimits sind üblich.
Ähnlich wie bei den früheren Pro Ana-Foren werden die Gruppen von einer oder mehreren Admins geleitet, welche auch für die Einhaltung der Gruppenregeln sorgen. Diese Kontrolle kann sich in mehr oder weniger strengen Sanktionen äußern, z.B. wenn vergessen wurde, bis Mitternacht ein Waagebild zu schicken. Die Folgen sind Verwarnungen, die Vergabe von Strafpunkten bzw. der Rauswurf aus der Gruppe. Meist bestehen derartige WhatsApp Gruppen jedoch nicht so lange wie frühere Webforen, es herrscht üblicherweise ein Kommen und Gehen von Mitgliedern, was den persönlichen Kontakt untereinander nicht mehr so intensiv werden lässt.
Pädophile als „Pro-Ana-Coaches„
Neben der generellen Gefahr durch Pro Ana-Gruppen sind es Männer mit pädophilen Neigungen, die das Gefährlichkeitspotenzial für Teenager und junge Menschen nochmals verschärft haben. Auf Kontakt-Suchbörsen der Pro-Ana-Szene geben viele User nicht nur anonyme Emailadressen an, sondern auch ihre Telefonnummern für direkte Kontaktmöglichkeit auf WhatsApp, insbesondere wenn sie sich „Ana-Twins“, also Abnehmpartner_innen, erhoffen. Diese Einträge auf den Suchbörsen gehen sehr oft Jahre zurück, dh. die Telefonnummern von zumeist Minderjährigen sind auf diese Weise leicht auffindbar – auch für sogenannte „Ana-Coaches“. Mit WhatsApp Gruppen hat die Anonymität der alten Webforen, wo sich User hinter Pseudonymen wie „FairyAngel“, „Mondschein“ o.ä. verbergen konnten, ein Ende genommen – ein zusätzliches Risiko.
Denn unter dem Deckmantel, ein sogenannter „Coach“ zu sein und zum Abnehmen anzutreiben, nehmen v.a. Männer mit pädophilen Neigungen Kontakt mit Minderjährigen (aber auch jungen Frauen über 18) auf, um sich letztendlich Bilder in Unterwäsche oder Nacktfotos von diesen schicken zu lassen. Dazu setzen diese „Coaches“ auch eindeutige Inserate auf Such-Seiten, wo z.B. als Offert angeboten wird, die „Kontrolle der Nahrungsaufnahme und des Sports“ zu übernehmen. Voraussetzung für die Teilnahme sei, „keine Probleme mit Selbstbestrafung zu haben“ und willkommen wären „Anas, Borderlinerinnen und SVV-Anas bzw. Mias“, die auch bereit sind „Figurfotos“ zu schicken. Mit einer derartigen Annonce wird gezielt Jagd auf vulnerable Menschen mit Essstörungen und anderen psychischen Erkrankungen gemacht, um diese virtuell auszubeuten.
Dabei kann auch – neben der Missbrauchssituation selbst – eine gefährliche emotionale Abhängigkeit der vulnerablen Minderjährigen von den „Coaches“ entstehen, wenn diese als vermeintlich Vertraute und im Extremfall als Seelenverwandte beim Wunsch, immer dünner zu werden, angesehen werden. Genau auf dieses Grooming-Verhalten von Tätern geht auch eine aktuelle Studie aus dem Herbst 2023, veröffentlicht im „International Journal of Eating Disorders„, ein. Dafür wurden Interviews mit Betroffenen geführt sowie Fake-Profile auf Plattformen angelegt.
Medienberichte und Selbstversuch
Im Laufe der letzten Jahre gab es zahlreiche Medienberichte über die Gefahr von Coaches, so z.B. eine Reportage in der ARD-Mediathek oder diverse Artikel, für deren Recherche sich Journalisten als Minderjährige ausgaben und danach über ihre Erfahrungen mit diesen Coaches berichteten. Mittlerweile ist das Thema nicht mehr neu und es herrscht eine gewisse Sensibilisierung der Öffentlichkeit für diese Art des Online-Missbrauchs von Jugendlichen. Auch auf den Pro Ana-Suchplattformen mehren sich die Warnungen anderer User, nicht mit derartigen Coaches Kontakt aufzunehmen. Es ist also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das Wissen um die Gefahr durch Pädophilie und (sexuelle) Ausbeutung inzwischen in der Pro Ana-Szene angekommen und allseits bekannt sind.
Wie sieht es mit der Strafverfolgung aus? Ein Urteil aus den Niederlanden aus dem Jahr 2013 nimmt explizit auf den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen im Kontext der gezielten Förderung von Essstörungen Bezug. Doch es kommt – leider wie so oft – nur in den aller wenigsten Fällen zu Strafanzeigen gegen Online-Täter und die Dunkelzimmer dürfte, auch aus Scham auf Opferseite, hoch sein. Für Polizei und Behörden ist es meist nahezu unmöglich, Täter auszuforschen bzw. gibt es nur wenige Berichte über polizeiliche Ermittlungen. Es scheint fast so, als wären Chatgruppen und Chat-Apps die Büchse der Pandora für pädophile Internetkriminalität, wo gezielt junge Menschen mit Essstörungen ins Visier genommen werden.
Derartige Chat-Apps gibt es viele, ein in Deutschland sehr bekannter Anbieter ist Kik. In den dortigen Community Richtlinien heißt es zwar klar: „Do not promote or glorify self-harm — including cutting, eating disorders, and suicide. We encourage discussions that raise awareness, provide support, and promote recovery for those struggling with self-harm. While dialogue about these topics is important, we will remove any posts that cross the line into promoting or glorifying self-harm. Let us know if you see someone on Kik discussing harming themselves or others.“
Das heißt, die Plattform Kik erlaubt öffentliche Austauschgruppen zu Themen wie Essstörungen unter obig zitierten Gesichtspunkten. Doch ein kurzer Selbstversuch aus dem Frühsommer 2024 zeigt: Direkt nach Betreten einer solchen Chatgruppe – ohne jegliche Interaktion darin – bekomme man binnen drei Minuten eine Privatnachricht, die lediglich aus einem Satz besteht: „Are you looking for a coach?„
Das Risiko für Minderjährige und essstörungsgefährdete, vulnerable Personengruppen bleibt also immens hoch, so lange es keine Möglichkeit gibt, Grooming-Verhalten in Privatnachrichten auf derartigen Chat-Plattformen zu unterbinden. Und eine solche ist derzeit nicht in Sicht.