Nora an Marv – ein Brief aus dem Jahr 2021

Vorwort von Marvel Stella:

Im Januar 2021 bekam ich eine Mail von Nora. Zu dem Zeitpunkt wusste ich bereits von ihrer drastischen Essstörung und auch von Pro Ana. Doch nur das Oberflächliche, also nichts Konkretes. Ich mochte Nora von Beginn an, vor allem auch, da wir uns beide sehr ähnlich waren und sind. Ein Freund, der Nora in derselben Zeit kennen gelernt hat wie ich, sagte mal: „Wie kann man einerseits so naiv sein und anderseits so unfassbar klug.“ Das waren seine Worte, nachdem er ihre Diplomarbeit zu Gesicht bekommen hatte. Und ja, genauso ist sie: Eine perfekt funktionierende junge Frau, unfassbar klug und so hilflos, bedürftig und vor allem arglos.

Es gibt bereits viele Artikel von Nora. Einerseits auf unserer SRA-Debunking Seite, aber auch hier befinden sich eine Menge redaktioneller Beiträge von meiner Freundin und Kollegin, die einige Jahre als Journalistin gearbeitet hat. Ihre Beiträge sind stets makellos und fehlerfrei, was für mich nicht ungewöhnlich ist. Denn so kenne ich sie auch in den Mails, die sie mir schreibt. Nur manchmal hat sie keinen Zugang zu dieser klugen Seite, man spürt sie förmlich, die Barriere in ihrem Kopf. Sie stößt im Gespräch und im Schriftverkehr immer an dieselben Grenzen. Da passt nichts zusammen, nichts ergibt einen Sinn.
In so einer Verfassung war sie im Januar 2021, als sie mir den unteren Brief geschrieben hat. Ich habe ihn (natürlich in Absprache mit Nora) 1:1 übernommen, inklusive aller Tippfehler und sichtbarer Emotionalität. Es war die erste offene und ehrliche Mail, die ich von ihr bekam. Erschreckend, was darin zur Sprache gekommen ist:

→ ihre Abhängigkeit von dem, was man als „die Freundin Ana“ bezeichnet
→ ihre Ohnmacht und Hilflosigkeit, wenn sie Ana loslässt
→ der Missbrauch durch mehrere Pro Ana-Coaches
→ eine erlebte „Dämonenaustreibung“
→ die alles umfassende Angst, wenn Ana nicht mehr da ist
→ die Gewalt, die sie bei ihrem damaligen Partner erlebt (hat!)
→ die Perspektivlosigkeit
→ und man begreift als Leser, wer Ana ist und wieso sie so viel Macht hat.

Nora hat den Absprung geschafft. Sie ist nicht mehr zurückgegangen. Manchmal dachte ich, dass ich ihr beim „Absprung“ geholfen habe, mittlerweile aber sehe ich es anders. Ich habe sie zwar vor die Wahl gestellt – damals – aber dass sie Ana in genau dem Moment wirklich „losgelassen“ hat, ist nur ihrer eigenen unfassbaren Stärke zu verdanken. Vor allem, dass sie niemals zurückgefallen ist, selbst dann nicht, wenn wir Konflikte hatten.