Bürgergeld: Kontrolle statt Schutz

Bürgergeld: Kontrolle statt Schutz

Wie eine Regierung Armut zur Schuld umetikettiert

Kanzler Merz verschiebt die Achse. Weg von Ursachen, hin zu den Schwächsten. „Deckelung“ der Wohnkosten. „Überprüfung“ der Wohnungsgrößen. Das ARD‑Sommerinterview als Bühne, die Ärmsten als Requisite. Gewerkschaften, Sozial‑ und Mieterverbände, sogar der Koalitionspartner SPD widersprechen. Nicht aus Moral, aus Realität: Wohnraum ist teuer, Kontrollen erzeugen kein einziges zusätzliches Zimmer. Merz antwortet mit dem Lieblingsbild der Gegenwart: die „normale Arbeitnehmerfamilie“, der angeblich weniger bleibt als Bürgergeldbeziehenden. Das ist kein Argument. Das ist ein Spaltungsbefehl.

Der Code der „Normalfamilie“

„Normal“ ist ein politisches Messer. Es trennt „Tüchtige“ von „Verdächtigen“ und macht Armut zum Charakterfehler. Wer so spricht, verpackt Klassenpolitik in Alltagsprosa. Wenn der Kanzler „20 €/m²“ und „2.000 € Miete“ als Beispiel anführt, ist das kein Befund, sondern Dramaturgie. Sie erzeugt Neid nach unten, nicht Druck nach oben. Genau so funktioniert Macht in Krisen: mit moralischer Buchführung statt mit Wohnungsbau.

Was schon heute gilt – und gern verschwiegen wird

Das Jobcenter zahlt nur angemessene Kosten der Unterkunft. Punkt. So steht es im Gesetz. Nach einer Karenzzeit müssen „zu hohe“ Mieten gesenkt werden – Umzug, Untermiete, Abstriche. In der Regel binnen sechs Monaten. Also: Die Begrenzung, die Merz als zukünftige Härte inszeniert, existiert längst als Alltagshärte. Wer mehr fordert, fordert vor allem mehr Verdrängung.

Haushalt als Vorwand

Die Regierung braucht ein Spar‑Narrativ. Also wird beim Bürgergeld die große Zahl ins Schaufenster gestellt. Ja, die Grundsicherung ist mit 51,96 Mrd. € im Etat veranschlagt; die Bundesbeteiligung an Unterkunft und Heizung steigt auf 13 Mrd. €; die reinen Regelsatz‑Leistungen auf 29,6 Mrd. €. Reine Zahlen, nackt präsentiert, sollen Mitleid zur Sünde erklären. Politische Wahrheit ist eine andere: Hohe Ausgaben sind Folge von Teuerung, Wohnungsnot, Löhnen, die nicht zum Leben reichen – nicht Folge von „Milch und Honig“ im Jobcenter.

Disziplin statt Versorgung

Merz’ Linie: Kontrolle als Sozialpolitik. Wohnfläche prüfen. Quadratmeter pauschalieren. Leistung kürzen. Diese Architektur produziert drei Dinge, keines davon eine Wohnung:

  1. Bürokratieexplosion – mehr Kontrollen, mehr Bescheide, mehr Widersprüche.
  2. Segmentierte Ohnmacht – Alleinerziehende, Kranke, prekär Beschäftigte werden gezwungen, „angemessene“ Wohnungen zu finden, die es nicht gibt.
  3. Wohnungslosigkeit – weil „Sparen“ am Ende Umzug heißt. Und Umzug ohne Angebot ist faktisch eine Räumung. Das bestätigen die Verbände nüchtern: Deckeln löst keinen Wohnungsmangel. Es schafft ihn.

Verfassungsgrenze

Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt: Der Staat muss ein menschenwürdiges Existenzminimum sichern. Nicht in Gnade, in Recht. Und Sanktionen? Nur unter strengen Voraussetzungen, weil sie am Fundament sägen. Wer das Minimum politisch nach unten drücken will, kollidiert nicht mit „Wokeness“, sondern mit Karlsruhe.

Die ideologische Operation

Merz’ Vorschläge sind keine Spartechnik. Sie sind ein Reinigungsritual: Armut wird zur Unordnung erklärt, die es zu disziplinieren gilt. Statt Mieten zu begrenzen, werden Menschen begrenzt. Statt sozialen Wohnungsbau zu beschleunigen, beschleunigt man Leistungsprüfungen. Statt Reallöhne zu heben, hebt man den Zeigefinger. Dass selbst die SPD‑Fraktionsspitze den Ansatz „wenig ausgegoren“ nennt, zeigt: Hier wird Symbolik betrieben, nicht Politik.

Was wirken würde – und deshalb nicht auf dem Zettel steht

  • Mietrecht mit Zähnen: echte, flächendeckende Deckelungen, Kappungen, Strafzinsen auf Leerstand.
  • Massiver sozialer Wohnungsbau mit Bundesgarantien und Bodenpolitik, die Spekulation unattraktiv macht.
  • Lohnpolitik, die Vollzeit aus Armut herausführt, statt Aufstocker‑Arbeitsmärkte zu zementieren.
  • Jobcenter‑Entlastung: weniger Kontrolle, mehr Vermittlung, mehr Qualifizierung – finanziert statt kaputtgespart.

All das kostet am Anfang. Senkt aber die soziale Brandlast – und damit den Haushalt, den Merz vorgibt zu retten. (Zu den Koalitionskonflikten und Einsparzielen siehe auch die aktuelle Berichterstattung.)

Schluss: Keine Moral auf Kosten der Ärmsten

Wer Armut als Misstrauensfall behandelt, rasiert Stück für Stück die demokratische Substanz ab. Sozialstaat heißt: Menschen vor Marktfolgen zu schützen, nicht Menschen den Marktfolgen auszuliefern. Merz’ Bürgergeld‑Vorstoß ist ein Lehrstück in Machtlogik: Definitionsmacht über „Angemessenheit“ verschiebt sich nach oben, Lebensrisiken nach unten.

Die Armen sind nicht das Defizit im Bundeshaushalt. Sie sind der Lasttest für die Republik. Wer sie demütigt, saniert keine Finanzen. Er demoliert das Gemeinwesen.

Quellen

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