Wenn das Alter zur Kostenstelle wird

Hendrik Streeck und die neue Entwertung des Lebens

Hendrik Streeck macht keinen medizinischen Vorschlag. Er eröffnet einen Kulturkampf um die Legitimität des Alterns. Seine Aussage, man müsse „hinterfragen“, ob sehr alte Menschen noch teure Medikamente erhalten sollen, ist kein Versprecher und keine unglückliche Formulierung. Sie ist ein ideologisches Programm in Reinform: die Ökonomisierung der Lebenszeit.
Was wie ein Sachargument klingt, ist in Wahrheit eine politische Setzung.

1. Die stille Einführung des Kostenmenschen
Wenn ein Gesundheitspolitiker formuliert, Bürgerinnen und Bürger würden das Gesundheitssystem „zu sehr in Anspruch nehmen“, dann ist der Diskurs bereits verschoben. Nicht mehr die solidarische Versorgung steht im Zentrum, sondern die Frage, wer sie „verdient“.
Alte Menschen erscheinen nicht mehr als Patient:innen, sondern als Kostenkategorie. Das ist kein medizinischer Blick. Das ist Verwaltungslogik, die sich an biologischen Restlaufzeiten orientiert.

2. Ressourcenknappheit als moralisches Argument
Streeck spricht von „Verschwendung“ und „wenigen Ressourcen“.
Das ist der älteste rhetorische Trick einer Politik, die nicht Verantwortung übernehmen will:
Knappheit wird als Naturgesetz präsentiert, nicht als Folge politischer Entscheidungen.
Wer das glaubt, hält Rationierung für unvermeidlich und entlässt die Politik aus ihrer Pflicht, ein System zu finanzieren, das alle trägt – nicht nur jene, die ökonomisch verwertbar sind.

3. Die gefährliche Verallgemeinerung des Privaten
Streeck erzählt von seinem sterbenden Vater.
Ein zutiefst persönlicher Moment wird instrumentalisiert, um eine strukturelle Norm zu etablieren: Wenn Therapien „nichts bringen“, solle man sie „hinterfragen“.
Was hier fehlt, ist entscheidend:

  • keine Analyse der ärztlichen Indikation
  • keine Auseinandersetzung mit Palliativmedizin
  • keine Debatte über Autonomie und Würde am Lebensende

Stattdessen eine moralische Schlussfolgerung: Es wurde „zuviel gemacht“. Und daraus folgt die Einladung, älteren Menschen generell weniger zuzugestehen.
Das ist nicht Trauer. Das ist politische Zweckrationalisierung.

4. Der Subtext: Alters-Triage
„Es gibt Phasen im Leben, in denen man bestimmte Medikamente nicht mehr einfach so benutzen sollte.“
Dieser Satz markiert eine Grenze – nicht medizinisch, sondern ökonomisch.
Er sagt nicht: „Die Indikation ist fraglich.“
Er sagt: „In gewissen Lebensphasen lohnt sich das nicht mehr.“
Damit wird Alter zur Legitimation einer Behandlungssperre. Eine Rationierungsideologie, verkleidet als Vernunft.

5. Selbstverwaltung als Entpolitisierung
Streeck zieht sich am Ende in die „medizinische Selbstverwaltung“ zurück.
Das ist kein Rückzug – es ist ein Manöver.
Denn:

  • die Selbstverwaltung ist nicht demokratisch legitimiert,
  • Patient:innen haben darin kein Stimmrecht,
  • ökonomische Kriterien dominieren den Entscheidungsprozess.

Wer eine solche Debatte dorthin verlagert, nimmt Einfluss, ohne Verantwortung tragen zu müssen. Und öffnet die Tür für Priorisierungsrichtlinien, die das Alter als Ausschlusskriterium normalisieren.

6. Die eigentliche Verschiebung: vom Recht zur Rentabilität
Streeck spricht eine Sprache, die in Gesundheitssystemen längst vorbereitet wurde:

  • „Kosten-Nutzen-Abwägung“
  • „Effizienz“
  • „Übernutzung“
  • „Verschwendung“

Das sind Codes.
Sie markieren die Abkehr vom solidarischen Prinzip und die Hinwendung zu einer utilitaristischen Medizin:
Menschenleben nach Leistungsfähigkeit. Lebenszeit nach Rentabilität. Therapie nach ökonomischem Nutzen.
Das ist nicht Gesundheitsökonomie.
Das ist biopolitische Verwertung.

7. Wer verliert?
Die Antwort ist eindeutig:

  • alte Menschen
  • chronisch Kranke
  • Menschen mit Behinderungen
  • Menschen mit geringer Lebenserwartung
  • Menschen in Pflegegraden
  • Menschen, deren Körper nicht „funktionieren“

Mit anderen Worten: jene, deren Existenz ohnehin schon prekär gemacht wurde.
Wenn das Alter zur Kostenstelle wird, wird das Leben zur Ware. Und der Mensch zum Projekt der Effizienzoptimierung.

8. Die politische Funktion der Streeck’schen Intervention
Sie öffnet Räume für:

  • die schleichende Rationierung innovativer Therapien
  • Altersgrenzen bei Arzneimittelerstattung
  • Priorisierungssysteme ohne öffentliche Debatte
  • moralische Entwertung der „Nicht-Produktiven“

Das ist ein diskursiver Testballon: Wie weit lässt sich das Fenster zur Entsolidarisierung öffnen?
Die Antwort muss klar sein:
So weit gar nicht.

Was Streeck formuliert, ist nicht medizinische Klugheit, sondern die Normalisierung einer Politik, die den Wert eines Lebens an seiner ökonomischen Verwendbarkeit misst.
Und genau das ist die rote Linie, die nicht überschritten werden darf.

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