Was bedeutet Identitätspolitik?
Identitätspolitik bedeutet nicht nur „gesehen werden“, sondern auch: überleben, gehört werden, mitbestimmen. Sie ist keine Lifestyle-Politik, sondern eine Notwendigkeit für viele, deren Existenz systematisch ausgelöscht wurde oder wird.
Oft wird in dem Zusammenhang von „Spaltung“ geredet.
Spaltung wovon? Wer heute von „Spaltung“ redet, meint meist: Unruhe im Konsens der Privilegierten.
„Spaltung“ ist ein ideologischer Kampfbegriff.
Er wird meist dann benutzt, wenn marginalisierte Gruppen anfangen, sich hörbar zu machen. Nicht wenn die Gesellschaft tatsächlich auseinanderbricht, sondern wenn das Bild der Einigkeit Risse bekommt. Diese Einigkeit aber war nie neutral. Sie war gebaut auf Ausschluss: von nicht-weißen Perspektiven, von queeren Leben, von Menschen ohne Pass, ohne Kapital, ohne Stimme.
Was also wird gespalten?
Nicht ein homogenes „Wir“, sondern der Mythos davon. Wenn heute gesagt wird, Identitätspolitik „spalte die Gesellschaft“, dann bedeutet das: sie stört das Einvernehmen jener, die sich lange als „Mitte“ oder „Allgemeinheit“ geriert haben. Sie provoziert Konflikte, die vorher unsichtbar waren – nicht weil es sie nicht gab, sondern weil sie keine Rolle spielen durften.
Der Konsens der Privilegierten beruht auf einem stillschweigenden Pakt: Kritik ist erlaubt, solange sie nicht an die Fundamente rührt. Wenn Frauen Gleichstellung wollen ➔ bitte. Aber wehe, sie benennen männliche Gewalt als strukturell. Wenn Migrant*innen Teilhabe fordern ➔ gern. Aber keine Rede von Kolonialgeschichte, Grenzregimen oder institutionellem Rassismus. Und wenn queere Menschen sichtbar werden ➔ bitte nicht zu laut, nicht zu wütend, nicht zu politisch.
Identitätspolitik unterbricht diesen Pakt. Sie besteht darauf, dass persönliche Erfahrung politisch ist. Dass Repräsentation ohne Umverteilung leer bleibt. Dass es keine „universellen“ Interessen gibt, solange bestimmte Körper systematisch entrechtet werden. Sie will keinen Konsens um jeden Preis – sie will Gerechtigkeit. Und Gerechtigkeit ist nicht harmonisch.
Die Rede von der „Spaltung“ verklärt das Machtverhältnis. Sie suggeriert, alle Seiten stünden gleichberechtigt auf dem Spielfeld. In Wahrheit ist das Spielfeld schief, die Regeln gemacht von wenigen, gespielt auf dem Rücken vieler. Wer da von Spaltung spricht, meint in Wahrheit: Die Ruhe der Herrschenden ist gestört. Und das ist auch gut so.
Was bleibt?
Identitätspolitik ist kein Luxusprojekt, kein Nebenkriegsschauplatz und kein modisches Hobby urbaner Eliten. Sie ist eine Notwehrstrategie gegen ein System, das sich von Gleichheit ernährt, aber Ungleichheit produziert. Wer sie als Spaltung diffamiert, will nicht Einheit, sondern Ruhe. Wer sie als Fortschrittssimulation entlarvt, aber keine echte Umverteilung fordert, bleibt Komplize.