Digital – entgleist im Gespräch
Das Internet kann tückisch sein, selten wurde das so deutlich wie in den letzten Wochen. Online fehlt etwas Zentrales: das direkte Gegenüber. Worte stehen für sich allein, entkoppelt von Gesichtern. Kein Blickkontakt. Keine Körpersprache. Keine sichtbare Verletzung. Keine spürbare Reaktion. Wer kommentiert, sieht nicht, ob auf der anderen Seite jemand weint, zittert oder innerlich zusammenbricht. Die Hemmschwellen sinken.
Wie viele Menschen sind in letzter Zeit missverstanden worden? Und was macht es mit einem, wenn das, was man sagen will, völlig anders ankommt ➔ entstellt, verdreht, falsch gelesen?
Wenn Unterstützung da ist, fängt sie einen manchmal noch auf. Doch wenn niemand reagiert, wenn man mit dem Missverständnis allein bleibt, können Wunden entstehen, die tiefer gehen, als viele glauben. Online-Angriffe hinterlassen reale Narben, auch wenn sie digital beginnen.
Derealisation und Dissoziation
Wer öffentlich abgewertet oder massiv missverstanden wird, gerät oft in einen inneren Schockzustand. Die Umwelt wirkt plötzlich fremd, das Angstzentrum im Gehirn feuert und Stresshormone werden freigesetzt. Das hat zur Folge, dass sich die Wahrnehmung verengt. Alles wirkt verzerrt, unwirklich, wie durch eine Wand aus Watte. In der Psychologie spricht man dann von Derealisation.
Wenn die Sicht von außen sehr stark mit dem eigenen inneren Erleben kollidiert – besonders bei persönlichen Themen – kann das zu einem Gefühl führen, als würde die eigene Identität zerbrechen. „Das bin doch nicht ich, was die da sehen.“ Diese innere Spaltung hinterlässt Orientierungslosigkeit.
Sozialer Schmerz, ausgelöst durch Ausschluss oder Ablehnung, ist real. Das Gehirn verarbeitet ihn ähnlich wie physischen Schmerz. Wenn dieser Schmerz nicht verstanden oder aufgefangen wird, kann sich alles entkoppelt und unwirklich anfühlen.
Am schlimmsten wird es, wenn niemand da ist. Wenn niemand aufsteht. Wenn niemand sagt: „Stopp.“ Dann erscheint die Welt wie ein feindlicher Ort. In solchen Momenten schaltet das Gehirn in den Selbstschutzmodus und spaltet Gefühle ab. Diese Dissoziation kann kurzfristig schützen, fühlt sich aber oft erschreckend surreal an.
Was hilft, wenn die Welt kippt?
Der erste Schritt ist die Anerkennung der eigenen Verletzung. Kein Verdrängen. Kein Funktionierenmüssen. Einfach anerkennen:
„Das hat mich tief getroffen. Ich bin verletzt. Und das ist in Ordnung.“
Diese Ehrlichkeit ist der Anfang jeder Heilung. Ohne sie bleibt der Schmerz im Verborgenen und arbeitet weiter.
Wenn die Umwelt fremd wirkt, braucht es Rückverbindung. Der Körper ist dabei ein verlässlicher Anker: kaltes Wasser oder Wärme, barfuß stehen, den Boden spüren, die Schwerkraft wahrnehmen. Auch Schreiben kann helfen – nicht für andere, sondern für sich selbst. Was wurde gesagt? Was war gemeint? Was kam an? Welche Gedanken kehren immer wieder zurück? Schreiben ordnet.
Wichtig ist auch: Abstand nehmen. Raus aus toxischen Räumen. Handy weglegen. Kommentare nicht mehr lesen. Grenzen setzen. Sich selbst schützen.
Der Wert eines Menschen hängt nicht an einem Missverständnis. Nicht an der Wut anderer. Nicht an einem einzigen Satz, der falsch verstanden wurde.
➔ Man darf Fehler machen.
➔ Man darf falsch verstanden werden.
➔ Man darf verletzt sein – und trotzdem wertvoll bleiben.
Manchmal gibt es gar keinen klaren Fehler. Nur einen zerbrochenen Moment. Und trotzdem tragen viele die Schuld dafür. Doch am Ende zählt etwas anderes:
„Ich war ich – in dem Moment. Es war nicht perfekt. Aber es war echt. Und ich darf weitergehen.“