Zwischen Waschlappen und Wissenschaft
Einleitung
Die Neurologie steht unter Druck. Long COVID und ME/CFS stellen ein medizinisches System infrage, das gewohnt ist, sichtbar zu messen, eindeutig zu diagnostizieren und linear zu therapieren. Doch was passiert, wenn Symptome entgleiten, sich nicht fassen lassen, keine klassischen Befunde liefern? Die Antwort ist bezeichnend: Statt Erkenntnis gibt es Rehabilitierungsrituale. Statt Forschung gibt es Ordnungstherapie. Statt Hilfe gibt es Disziplinierung. Der Fall Christoph Kleinschnitz und das Kneipp-Programm im Allgäu zeigen, wie eine Fachrichtung beginnt, sich durch politische Biopolitik zu retten – und dabei die am schwersten Erkrankten ausschließt.
1. Die Kneipp-Therapie als medizinisches Feigenblatt:
Im Allgäu läuft derzeit eine Studie, finanziert vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit: Hydrotherapie nach Kneipp soll gegen Post-COVID helfen. Oberkörperwaschungen um 5 Uhr morgens. Kalte Güsse. Tagesstruktur nach „Ordnungslehre“. Kein Platz für Diskussion, kein Raum für individuelle Bedarfe. Teilnahmebedingung: Proband*innen müssen „den Alltag weitgehend ohne Hilfe bewältigen“. Schwer Erkrankte? Ausgeschlossen. Wer zu krank ist, wird nicht untersucht. Und damit: nicht gesehen.
2. Die Rolle von Christoph Kleinschnitz:
Der Essener Neurologe, Experte für Multiple Sklerose, steht hinter genau solchen Studien. In Kooperation mit Kneipp-Forschern und der Carstens-Stiftung betreut er ein groß angelegtes Projekt zur Wirkung von Ordnungstherapie bei Long COVID. Parallel dazu veröffentlicht er öffentlichkeitswirksam Thesen, ME/CFS sei „in den meisten Fällen psychosomatisch“. Eine medizinische Entwertung, die nicht auf Fakten basiert, sondern auf Machtsicherung: Wer Symptome entkörpert, macht sich unangreifbar.
2.1. Die Rolle von Christoph Kleinschnitz – Machtliebe unter Sachvorwand?
Christoph Kleinschnitz steht nicht zufällig im Zentrum. Er fordert wiederholt, ME/CFS und Long-COVID seien „in den allermeisten Fällen psychosomatisch“ geprägt
Diese Position widerspricht eindeutig den Erfahrungen der meisten Post-COVID-Ambulanzen und dem aktuellen Stand der Forschung
Damit entwertet er nicht nur das Erleben schwer Betroffener, sondern liefert ein Etikett, mit dem ihre Leiden neutralisiert werden: „psychosomatisch“ statt: unerforscht, systemisch, körperlich.
2.2 Warum das schadet
- Zermürbung in Echtzeit: Betroffene berichten, dass ihre Schmerzen und Crashs heruntergespielt und allzu oft als „einbildung“ oder „psychisch“ etikettiert werden
Das fördert Zweifel, Zurückweisung und Selbstzweifel – eine Kaskade, die zu Isolation führt, oder im äußersten Fall zur Verzweiflung. - Methodische Kritik gab es bereits: Kleinschnitz‘ Schlussfolgerung, Post-COVID sei psychosomatisch, stützt sich auf Studien, die unabhängig als methodisch schwach bezeichnet werden
- Öffentliche Bühne für Pathologisierung: In Talkshows und Interviews positioniert er sich als Sprecher einer „vernünftigen Medizin“, obwohl er im Kern nicht mehr als ein ideologisch getriebener Gatekeeper ist .
- Institutionelle Legitimation: Sein Engagement hinter Kneipp-Studien in Zusammenarbeit mit der Carstens-Stiftung verleiht seiner Position den Anschein seriöser Wissenschaft, obwohl diese Studien exakt jenes wissenschaftliche Profil entbehren, das bei ME/CFS nötig wäre
2.3. Warum das nicht nur Forschung, sondern Macht ist
Kleinschnitz repräsentiert nicht nur eine These, er aktiviert ein ganzes Netzwerk aus medial verstärkten Metaphern („psychosomatisch“, „Ordnungstherapie“, „natürliche Rückführung“), politischer Wirkungsabsicherung und institutioneller Strategie. Diese Konstellation schwächt das Vertrauen der Betroffenen in das System, durchkreuzt therapeutische Zugänge und verschiebt die Deutungshoheit zu Kontrolle und Pathologisierung.
Wer sich krank fühlt und als psychosomatisch eingestuft wird, verliert nicht nur die medizinische Anerkennung, er verliert deine Stimme, deine Legitimität und seine Autonomie. Kleinschnitz liefert genau diese Entwertung und damit ein Machtinstrument, das länger wirkt als jeder Wasserstrahl.
3. Was ist Biopolitik?
Biopolitik beschreibt, wie Institutionen Macht über Körper ausüben, nicht durch offensichtliche Gewalt, sondern durch subtile Formen der Normierung und Anpassung. Es geht nicht um Unterdrückung mit Zwang, sondern um Steuerung mit scheinbarer Fürsorge. Das bedeutet: Der Staat – oder seine Institutionen – bestimmen, wie Menschen leben, welche Körper als gesund oder krank gelten, wer behandelt und wer verwaltet wird.
3.1. Biopolitik im Fall von ME/CFS:
Nur die „noch funktionsfähigen“ Erkrankten werden in Studien aufgenommen. Nur jene, die sich in den Tagesplan fügen, gelten als „therapierbar“. Kalte Güsse, frühes Aufstehen, strukturierter Tagesablauf – all das ersetzt echte medizinische Forschung durch kontrollierende Maßnahmen. Es ist keine Therapie, sondern ein Disziplinierungsritual. Was wie Hilfe aussieht, ist in Wahrheit ein Selektionsmechanismus: Nur wer sich disziplinieren lässt, wird eingebunden. Der Rest? Unsichtbar gemacht, delegitimiert, ausgeschlossen.
4. Die DGN und ihre Stellungnahme – medizinischer Selbstschutz:
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie hat im Juli 2025 eine Stellungnahme zu ME/CFS veröffentlicht, die viel sagt, ohne Verantwortung zu übernehmen. Kein klares Bekenntnis zu physischen Ursachen. Kein Aufruf zur Versorgung der Schwerkranken. Stattdessen: Betonung der Vielgestaltigkeit, der psychosomatischen Überlappung, der fehlenden Evidenz. Das ist keine Analyse, das ist Schadensbegrenzung. Die Neurologie inszeniert sich als öffentlich forschend, während sie in Wahrheit um ihre Deutungshoheit fürchtet.
5. Wer profitiert – und wer verliert?
Solche Programme entlasten Kliniken, überfordern Patient*innen und legitimieren politische Inaktivität. Sie schaffen verwaltbare Kranke: funktionsfähig, ansprechbar, rehafähig. Die anderen? Werden pathologisiert, ignoriert, als nicht therapiefähig aussortiert. ME/CFS ist ein Machtproblem – kein Diagnosedefizit. Und was Kleinschnitz, Kneipp und die DGN liefern, ist kein Fortschritt. Es ist ein biopolitisches Ablenkungsmanöver.
6. Mit Nachdruck:
Die schwer Erkrankten brauchen keine Güsse. Sie brauchen Anerkennung. Forschung. Versorgung. Und eine Medizin, die nicht ihre eigenen Schwächen kaschiert, indem sie die Schwäche der anderen pathologisiert. Was derzeit passiert, ist keine Therapie. Es ist Macht in Reinform. Getarnt als Hilfe. Organisiert als Ordnung. Und bezahlt mit dem Leben jener, die nicht mehr kräftig genug sind, zu widersprechen.
Warnung!
Was als „sanfte Kneipp-Therapie“ verkauft wird, birgt für ME/CFS-Betroffene eine reale Gefahr. Jede Aktivierung – ob Bewegung, Kälte oder auch nur Reizexposition – kann zu einem sogenannten Crash führen: einer drastischen, oft irreversiblen Verschlechterung des Zustands. Diese Form der Zustandsverschlechterung ist kein Rückschritt, sondern ein Absturz, der Wochen, Monate oder sogar nie kompensiert wird. Dass genau diese Patient*innen aus Studien ausgeschlossen werden, schützt nicht – es vernichtet ihre medizinische Sichtbarkeit. Und setzt sie einer Versorgung aus, die mehr schadet als hilft.
Empfehlung:
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X-Beiträge
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- Meine kritische Mail an die DGN
Quellen:
- Kann Kneipp Menschen mit Post-Covid helfen? Eine Studie im Allgäu will das beweisen
- Post-COVID: 2 neue Forschungsprojekte zu Kneipp-Verfahren
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Genau diese Art von Neurologen und sonstigen Ärzten, hat mich in die hochgelobte Reha genötigt.
Vorher noch, wenn auch reduziert, Arbeitsfähig, bin ich seither AU und liege 20 bis 22 Std. des Tages, im abgedunkelten Zimmer!
Zwar haben die Ärzte in der Reha, dann ME als Folgeerkrankung von Post Covid erkannt….geschützt hat es mich nicht! War übrigens eine neurologische Reha!