Wenn Opfersein zum Verdacht wird

Über die problematische Rahmung sexuellen Missbrauchs als identitätsstiftendes Narrativ

Urbaniok: Psychologische Erklärung mit problematischer Verkürzung

In der aktuellen Debatte um falsche Erinnerungen, suggestive Therapien und Verschwörungserzählungen rund um „rituelle Gewalt“ verschiebt sich leise, aber folgenreich der Fokus. Was als berechtigte Kritik an ideologischen Fehlentwicklungen beginnt, mündet zunehmend in eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Opfersein selbst. Besonders sichtbar wird diese Verschiebung dort, wo sexueller Missbrauch nicht mehr primär als Gewaltgeschehen betrachtet wird, sondern als psychologisch attraktives Deutungsangebot.

Der forensische Psychiater Frank Urbaniok formuliert in einem Interview die These, dass Falschbeschuldigungen „nicht selten“ von Personen ausgingen, die „dankbar nach dem Konstrukt sexueller Missbrauch greifen“, weil eine Identität als Opfer psychologisch attraktiv sei. Anerkennung, Mitleid und moralische Eindeutigkeit – „Ich bin gut, die anderen sind böse“ – werden dabei als zentrale Motive benannt.

Diese Aussage ist eingebettet in einen forensischen Kontext. Urbaniok argumentiert aus der Perspektive des Justizschutzes, mit Blick auf Fehlurteile und die realen Schäden für zu Unrecht Beschuldigte. Dieser Rahmen ist legitim. Problematisch wird seine Position jedoch dort, wo aus einer möglichen psychodynamischen Erklärung eine implizite Deutung des Opferseins selbst wird.

Denn Urbaniok bleibt an entscheidenden Stellen unpräzise. Die Formulierung „nicht selten“ suggeriert Häufigkeit, ohne sie zu belegen. Vor allem aber bleibt unklar, worauf sich das „Konstrukt sexueller Missbrauch“ konkret bezieht: auf nachweislich suggerierte Erinnerungen, auf ideologisch geprägte Therapien – oder auf Aussagen über real erlebte, aber nicht beweisbare Gewalt. Diese fehlende Trennschärfe ist kein bloßes sprachliches Detail. Sie öffnet den Raum für Generalisierungen, die weit über den ursprünglichen forensischen Zweck hinausreichen.

Sexueller Missbrauch ist jedoch kein Narrativ, sondern eine Gewalterfahrung. Narrative entstehen erst in seiner nachträglichen Verarbeitung.

Harder: Kontextualisierung, die zur Ausweitung wird

Diese Generalisierung wird im skeptischen Diskurs aufgegriffen und verstärkt. In der Einordnung durch Bernd Harder, der Urbaniok zitiert und dessen Aussagen in einen umfassenden Text zur Verschwörungstheorie „rituelle Gewalt / Mind Control“ einbettet, verschiebt sich der Bedeutungsrahmen weiter. Urbanioks These fungiert dort nicht mehr als spezifische Warnung vor bestimmten Fehlentwicklungen, sondern als Erklärungsmuster für die Artikulation von Opfererfahrungen insgesamt.

Harder benennt reale Schäden: suggestive Therapien, ideologische Beratungsstellen, Menschen, deren Leben durch falsche Erinnerungen zerstört wurde. Diese Kritik ist berechtigt. Doch durch die Kontextualisierung entsteht ein semantischer Kurzschluss. Die Grenze zwischen der Kritik an einer Verschwörungsideologie und dem Misstrauen gegenüber Menschen, die von sexueller Gewalt berichten, wird unscharf. Berichte über Opfererfahrungen erscheinen vor allem als anfällig, problematisch, potenziell funktional.

Besonders wirksam ist dabei nicht das offen Gesagte, sondern das Implizite. Zwar wird wiederholt betont, dass es selbstverständlich reale Opfer sexueller Gewalt gibt. Gleichzeitig etabliert sich ein Grundton, in dem Opfersein als psychologisch lohnendes Narrativ erscheint – als Deutung, die Ordnung schafft, Sinn stiftet, moralische Klarheit bietet. Damit wird nicht mehr nur die Wahrheit einzelner Aussagen geprüft, sondern die Motivation des Sprechens selbst unter Verdacht gestellt.

Folgen für Opfer sexuellen Missbrauchs – unabhängig von RG-MC

Die Folgen dieser Verschiebung sind erheblich – und sie betreffen reale Betroffene sexuellen Missbrauchs unabhängig von jeder Verschwörungstheorie. Wenn Opfersein als identitätsstiftend geframt wird, entsteht ein zusätzlicher Rechtfertigungsdruck. Betroffene müssen nicht nur über Gewalt sprechen, sondern zugleich beweisen, dass sie daraus keinen psychologischen oder sozialen „Gewinn“ ziehen. Anerkennung wird zur Verdachtskategorie.

Besonders hart trifft dies Menschen mit fragmentierten Erinnerungen, späten Offenlegungen oder komplexen Biografien. Ihre Erfahrungen sind oft schwer belegbar, ihr Sprechen ohnehin riskant. In einem Diskurs, der Opfern unterstellt, ihr Leid könne eine Funktion erfüllen, verschiebt sich die Beweislast endgültig zu ihren Ungunsten. Nicht mehr das Geschehen steht im Zentrum, sondern die Frage nach der Lauterkeit des Erzählens.

So entsteht eine paradoxe Situation: Aus Angst vor falschen Beschuldigungen wird ein Klima erzeugt, das reale Opfer zum Schweigen bringt. Nicht durch offene Leugnung, sondern durch ein strukturelles Misstrauen, das Verletzlichkeit selbst problematisiert. Der Schutz vor Irrtum kippt in ein Misstrauensregime.

Die notwendige Kritik an Verschwörungserzählungen und therapeutischen Fehlentwicklungen darf diesen Preis nicht haben. Aufklärung, die die Grenze zwischen ideologischer Konstruktion und individueller Gewalterfahrung nicht wahrt, verfehlt ihren eigenen Anspruch – und wird selbst zur Gefahr für jene, die ohnehin schon den höchsten Preis gezahlt haben.


Eine Bitte an die Skeptiker

Skepsis ist ein wertvolles Werkzeug. Sie schützt vor Irrtum, vor Ideologie, vor blinder Gefolgschaft. Aber wie jedes Werkzeug braucht sie Maß.
Vielleicht lohnt es sich, an dieser Stelle innezuhalten und sich eine einfache Frage zu stellen: Worauf richtet sich unsere Skepsis gerade – auf überprüfbare Aussagen oder auf das Sprechen über Leid selbst?
Denn zwischen der notwendigen Kritik an Verschwörungserzählungen und dem pauschalen Misstrauen gegenüber Opfererzählungen verläuft eine feine, aber entscheidende Linie.
Aufklärung muss nicht kalt sein, um klar zu sein. Und Rationalität gewinnt nichts, wenn sie sich vom Mitdenken verabschiedet. Wer den Missbrauch von Opferdiskursen kritisieren will, sollte darauf achten, nicht ungewollt jene zu treffen, deren Stimmen ohnehin fragil sind.
Vielleicht ist es gerade eine Stärke skeptischen Denkens, sich dieser Grenze bewusst zu bleiben – und sie nicht zu überschreiten.

Hinweis:

Das Interview mit Urbaniok befindet sich hinter einer Bezahlschranke. Hier kann man das Welt-Interview in Gänze lesen.


Nachtrag / Klarstellung

Nach Veröffentlichung dieses Textes hat Bernd Harder in den Kommentaren zu seinem Artikel eine Präzisierung vorgenommen. Er weist darauf hin, dass er das von Frank Urbaniok zitierte Statement in einem konkreten Kontext verstanden wissen möchte, nämlich bezogen auf einen spezifischen Extremfall aus dem sogenannten Münsteraner Gutachten (S. 114 ff.), der dem Bereich der rituellen-Gewalt-Verschwörung zuzuordnen ist. Zudem ergänzt er das Urbaniok-Interview um eine Passage, in der dieser ausdrücklich Solidarität mit realen Opfern sexueller Gewalt betont und vor einer pauschalen Infragestellung von Betroffenen warnt.

Diese Klarstellung ist sachlich korrekt und trägt zur besseren Einordnung bei. Sie ändert jedoch nichts an der im Artikel formulierten Kritik an der ursprünglichen Formulierung „nicht selten“ (Urbaniok). Diese bleibt aus wissenschaftlicher und diskursiver Sicht problematisch, da sie ohne ausreichende Eingrenzung eine Häufigkeit suggeriert, die über den konkret benannten Extremfall hinausweist.

Gerade weil die Abgrenzung zwischen ideologischen Konstrukten und realen Gewalterfahrungen so sensibel ist, halte ich es für notwendig, diesen Punkt transparent zu benennen – auch unter Berücksichtigung der nachträglichen Präzisierung.

Kommentare im Skeptix-Artikel: Von Bernd Harder hier und hier und von mir.

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